Shirin Neshat: Wut als Empowerment-Strategie

„The Fury“, „Die Wut“ – so nennt Shirin Neshat ihr neues Werk, das bereits in New York und London gezeigt wurde und seit dem 8. März auch in Berlin und später in Duisburg zu sehen ist. In großformatigen Fotos und einer Videoinstallation thematisiert sie darin sexualisierte Gewalt an Frauen in politischer Haft. Yasmin Khalifa hat für das Iran Journal mit der in New York lebenden Künstlerin gesprochen.

Shirin, in Deinem neuesten Werk „The Fury“ setzt Du Dich mit der Vergewaltigung von weiblichen Gefangenen auseinander. Wieso hat Dich gerade dieses Thema so beschäftigt? 

Shirin Neshat: Seit langer Zeit beschäftige ich mich mit dem weiblichen Körper als Schlachtfeld für politische und religiöse Überzeugungen. Besonders im Iran und anderen islamischen Ländern wird der weibliche Körper meist als ein Ort der Scham, Schuld und Sünde begriffen. Das ist sehr problematisch. Bis jetzt hatte ich das Thema Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung aus meiner Arbeit ausgeklammert.

Um ehrlich zu sein, hatte ich mich sehr in den Prozessverlauf von Hamid Nouri vertieft, der als iranischer Staatsanwalt maßgeblich für die Massenhinrichtungen politischer Gefangener in den 1980er Jahren im Iran verantwortlich war. Der Prozess fand in Schweden statt, wo Nouri verhaftet worden war. Es traten dabei viele Überlebende und Familienmitglieder der Hingerichteten auf, die die Folterungen und Erniedrigungen der Gefangenen bezeugen konnten. Darunter kam auch zur Sprache, dass viele aus der Haft Entlassenen später Selbstmord verübten. Das Urteil über den als Massenmörder Angeklagten fiel im Sommer 2022, also noch bevor die „Frau Leben Freiheit“-Proteste losgingen. 

Die meisten Frauen sprechen aus Scham nicht darüber, wann, wie oft, von wem sie Gewalt erfahren haben, weder in Gefangenschaft, wie in deinem Werk, noch außerhalb von Gefängnismauern. Männer hingegen, so scheint es, sind sich keiner Schuld bewusst, genauso wie die Uniformierten in deinem Video die tanzende Frau „nur“ ansehen. Was oder wem gilt Deine Klage? 

Frauen in solchen Situationen sind Opfer, genauso wie Mahsa Amini ein Opfer von Gewalt war. Aber es kann unsere Rolle oder Aufgabe sein, sich gegen diese Handlungen aufzulehnen. Ich sehe das Ende der Videoinstallation, diese Wut, dieses Aufbegehren, als etwas sehr Optimistisches.

Von der Ausstellung „The Fury“

Hast Du in Vorbereitung auf Dein Werk mit Frauen sprechen können, die Erniedrigungen durch sexualisierte Gewalt erleiden mussten?

Auch schon für den Film „Women without Men“ hatte ich Gespräche mit weiblichen politischen Gefangenen geführt, unter anderem mit der Autorin Shahrnush Parsipur, die selbst lange Zeit nach ihrer Haft noch sehr traumatisiert war und jeglichen Bezug zur Realität verloren hatte. Unter dem Vorwand, verhört zu werden, waren die Frauen in (Verhör-)Räume gebracht und vergewaltigt worden. Sie haben danach oft viele Tage nicht mehr gesprochen – sie waren definitiv nicht mehr dieselbe Person. Vergewaltigung und sexuelle Nötigung sind der beste Weg, einen Menschen zu brechen. Die Frau in meinem Video ist frei, aber so gebrochen, dass sie sich nicht von dem Trauma befreien kann, das sie im Iran erlebt hat.

Shirin Neshat

Was hat Dich dabei am meisten berührt – oder kann man sagen: schockiert?

Wenn man solche Geschichten hört, empfindet man ein starkes Mitgefühl. Ich hatte das Gefühl, dass man etwas tun muss. Ich gehöre zu einer Generation, die die Schuld immer bei den Frauen sucht. Das heißt, dass sich Frauen für das schämen, was ihnen angetan wurde; und das ist ein Phänomen, das sich überall in der Welt findet. Die Frauen, die auf meinen Fotos zu sehen sind, sind echte Personen aus meinem Viertel in Brooklyn, sie sind authentisch, keine Models. Jede von ihnen trägt ihre Last.

Auch wenn in der Videoinstallation zu erkennen ist, dass sexueller Missbrauch von Gefangenen ein universelles Thema darstellt, so sind die Bezüge zum Iran deutlich erkennbar, zum Beispiel in der Musik und dem Motiv der Haare. Inwiefern gehst Du Hand in Hand mit iranischen Frauen- bzw. Menschenrechtsaktivistinnen? 

Das tue ich nicht. Ich ziehe eine klare Linie zwischen Kunst und Aktivismus. AktivistInnen definieren sehr klar, was gut und was schlecht ist. Diese klaren Vorgaben würden mich als Künstlerin einengen. Ich sehe Kunst als eine Poesie, die den BetrachterInnen die Möglichkeit geben sollte, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Viele der IranerInnen, von denen ich Rückmeldungen bekomme, kommen damit nicht gut klar. Sie bevorzugen eindeutige Statements. Aber das ist in meinen Augen Propaganda. Ich denke, dass ich eher Fragen zu den Themen stelle, die ich bearbeite.

Proteste und Kunst

Die Videos für „Fury“ wurden im Frühjahr 2022 in Brooklyn gefilmt, also nur wenige Monate, bevor durch Mahsa Aminis Tod in iranischer Sicherheitsverwahrung die Bewegung „Frau Leben Freiheit“ eine ungeahnte Welle der Entrüstung, aber auch der Solidarität ausgelöst hat. Was hat das mit Dir gemacht? Welchen Einfluss hatte dies auf Deine Arbeit? 

„The Fury“ erschien mir plötzlich wie eine Vorausahnung der Ereignisse des Herbstes 2022. Das hat bei mir eine Achterbahn von Gefühlen ausgelöst.  Einerseits gibt es diese Euphorie für „Frau Leben Freiheit“, die wohl stärkste Bewegung seit der Revolution im Iran im Jahr 1979, bei der aber nun Frauen die treibende Kraft darstellen. Andererseits gibt es natürlich diese Tragödien hinter der Bewegung, Menschen, die inhaftiert, gefoltert und des Augenlichts beraubt wurden. Aber die Menschen haben, ähnlich wie in meiner Arbeit, ihrer Wut, ihrem Freiheitsdrang freien Lauf gelassen. Die Wut brachte dieses Gefühl von Solidarität, diesen Akt der Menschlichkeit hervor. Das sehe ich als sehr hoffnungsvoll an.

Von der Ausstellung „The Fury“

Auf den Fotografien spielt, ähnlich wie bei den Frauen of Allah, Kaligraphie eine Rolle. Kannst Du mir etwas über diese Texte sagen?

Ich habe bei den lebensgroßen Fotografien der Akte wieder Kaligrafie und  Fotografie zusammengeführt. Die Schriftstellerin Forough Farrokhzad ist meine absolute Lieblingsautorin. Ich bewundere ihre Arbeit immer wieder, obwohl sie schon in den 1960er Jahren gestorben ist. Sie ging so offen und mutig mit den Erfahrungen ihres Körpers und ihrer Sexualität um. Die Art, wie sie diese Themen behandelt, entspricht total meiner Arbeit. Obwohl sie ihr gesamtes Leben im Iran verbracht hat, kennt ihr Werk keine geografischen oder kulturellen Grenzen – so wie meine Werke, die nicht wirklich nur einem Kulturkreis angehören.

Was kommt nach „The Fury“? Was ist Dein nächstes Projekt? 

Rache! Die Rache der Frauen.

Die Ausstellung ist ab 8. März bis 9. Juni im Fotografiska-Museum in Berlin zu besuchen.

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