Ein nacktes Bild der Wahrheit

Und die Verlage? Zeitweise hieß es, es könnte kaum noch gedruckt werden, weil Papier so teuer sei…

Das hat mit Corona nichts zu tun, das Problem besteht schon länger. Aber ich habe die Verlagspolitik in Iran nie wirklich verstanden. Einerseits jammern viele Verleger, dass die Kosten so hoch und die Zeiten so schwierig seien und drucken von manchen Büchern nur ein paar hundert Exemplare. Auf der anderen Seite bekommen die großen Verlage auch Unterstützung von der Regierung. Billiges Papier zum Beispiel oder Immobilien. Und die Behörden kaufen immer große Mengen an Büchern für Bibliotheken. Es sind eher die kleinen Verlage, die Probleme haben.

Unlängst ist Ihre Übersetzung der Tagebücher von David Rubinowicz erschienen, eines jüdischen Jungen, der mit gerade mal zehn Jahren im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde. In der Tehran Times stand, Sie hätten das Buch bereits vor vierzig Jahren übersetzt….

Ich habe kurz nach der Revolution zusammen mit dem Bamberger Germanisten Faramarz Behzad für einen großen Verlag das Gesamtwerk von Brecht übersetzt. Dann kam der Iran-Irak-Krieg, Brecht wurde verboten, das Projekt platzte. Der Verlag wurde enteignet und verstaatlicht. In dieser Zeit hat mir der Dichter SAID das Buch von Rubinowicz geschickt. Das Original ist polnisch, ich habe es auf Basis der deutschen Übersetzung ins Persische übertragen.

Die Revolution ist nicht so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt hatten, sie hat schnell ihr wahres Gesicht gezeigt. Das fand ich in Rubinowicz‘ Tagebüchern wieder. Da geht es um das Leben mit den Faschisten. Ein zehnjähriger jüdischer Junge in einem südpolnischen Dorf schreibt seine Tagebücher in ein Schulheft, ganz knapp, klar, lakonisch. Er zeichnet ein nacktes Bild seiner Wahrheit. Die korrupten Deutschen überfallen Polen; die Polen verraten die Polen; die Juden verraten die Juden. Das war damals unsere Gesellschaft, das ist sie heute noch. Das Buch ist ein einziges großes Plädoyer gegen den Faschismus.

Aber wegen der ganzen Situation konnte es nicht erscheinen und blieb Jahrzehnte in meiner Schublade. Bis ich es einem Freund gab, der als Lektor beim Saless Verlag arbeitet. Der wollte es machen, schickte das Original an die Behörde, bei der man alle Bücher vor der Publikation einreichen und um Erlaubnis bitten muss. Und dort wurde entschieden, dass alles gestrichen werden muss, das mit der Ermordung von Juden zu tun hat. Das sind hauptsächlich Kommentar-Passagen des polnischen Verlegers, die das Tagebuch ergänzen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich sowas erlebe. Ich habe mal ein Stück von Fassbinder übersetzt, „Nur eine Scheibe Brot“. Da sollten sogar die Namen der Konzentrationslager raus. Aber wir sind darauf nicht eingegangen und haben gekämpft, bis die Behörde aufgegeben hat.

Gibt es denn in Iran unzensierte Literatur über den Holocaust?

Ja, die gibt es. Die Diskrepanz bei uns ist interessant: Autoren sitzen im Gefängnis, aber ihre Bücher kann man kaufen. Die Zensurbehörde hat rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Zum Beispiel wenn es um Gott und den Islam geht. Aber es gibt keine wirklichen Regeln. Es kommt auch drauf an, wer gerade ein Buch prüft. Der eine macht es so, der andere so. Aktueller Fall: Ich habe unlängst Dürrenmatts Roman „Justiz“ übersetzt. Da geht es um einen Anwalt, der auch Zuhälter ist. Das Wort „Zuhälter“ muss raus. „Hure“, „Dirne“, „Prostituierte“ – geht alles nicht. „Geschlechtsverkehr“, „Vergewaltigung“, „lesbisch“ und „homosexuell“ ebenso.

Wie geht man damit um?

Im Schreiben der Behörde an den Verlag ist festgelegt, was komplett gestrichen werden muss und was geändert werden kann. Ich habe einiges umformuliert. Mal sehen, wie die Antwort ausfällt. Und während all diese Begriffe problematisch sind, hat die Behörde kein Problem damit, dass der Protagonist Alkoholiker ist und andauernd trinkt. In einem anderen Buch hingegen mussten Begriffe wie „Bier“ und „Whisky“ gestrichen werden.

Klingt sehr willkürlich…

Es hängt von der Laune des jeweiligen Beamten ab. Mit Philosophie und Sachbüchern hat man in der Regel kaum Probleme. Bis vor einigen Jahren haben manche Autoren und Verleger absichtlich problematische Begriffe auf den ersten Seiten untergebracht, damit die Beamten etwas haben, das sie streichen können und dann auf den hinteren Seiten nicht mehr so genau hinsehen. Heute geht das nicht mehr so gut, weil sie digital nach Stichworten suchen. Aber was genau gestrichen wird kann man im Vorfeld nie sagen. Mit der Literatur wird eher streng umgegangen, während man in Filmen und auf der Theaterbühne Dinge sagen und tun kann, die in Büchern nicht möglich wären. Im Moment arbeite ich an einem eigenen Roman, für den ich, so fürchte ich, keine Genehmigung bekommen werde, daher denke ich über eine Veröffentlichung im Ausland nach.

Das Interview führte Gerrit Wustmann.

© Qantara

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