Esmail Khois Rückkehr nach Borgio Verezzi
Die deutsche Übersetzung des Gedichtes
„Rückkehr nach Borgio Verezzi“
Dieselbe Mündung in die Dunkelheit des Tunnels.
Und dann ein wortloses Gefühl;
und ein halber Augenblick, in dem sich der Zug in einen Sarg verwandelt,
und dann der matte Aufruhr aller Farben
auf dem offenen, stillen Grünblau;
und die Plötzlichkeit der bewaldeten Hügel.
Und dann
die kühle Abwesenheit der Touristen
auf dem müßigen Strand;
und jene Koralleninsel
vor einem fahlen Hintergrund von Überdruss;
und die zwei verliebten Felsen
einander beobachtend
in magischem Stillstand
einer ewigen, felsigen Verwunderung.
Und dann, die Wirklichkeit meiner zweifellosen Wachheit, in einem ungewissen Schlaf voller Traumbilder
dessen fließender Text
Zeile für Zeile
punktiert wird
vom vorbeiziehenden Kreischen der Seemöwen.
Und dann der angenehme Duft von Kaffee im flüchtigen Raum auf der Strecke.
Und dann sagte sie:
“Wir sind da.
Wo ist dein Regenmantel?”
Und der Schirm ihrer Haare wurde ein Regenguss von Sonnenstrahlen
in jener Nacht
auf meiner Schulter.
Und dann, …
“Die Liebe meiner Jugend Liebe”, lieber Hafis,
“die dir im Traume erschien…”
Siehst du?
auch ich bin
im Alter
neu verliebt;
und noch immer ein Narr.
Und dann:
die kleine alte Frau hat in ihren Augen
die Gütigkeit der Großmutter –
Wenn sie auf dem Boden säße,
einen Schleier trüge,
und Persisch spräche,
und ihre Brille
in den Pausen ihrer Koranlektüre
abnähme,
und ihre Tränen mit den Ecken ihres Kopftuchs abwischte
und die ganzen Gebetstexte auswendig wüsste …
Und sie hatte gefragt: “Wo sagtest du?”
Und meine Antwort war: “Ich sagte: Iran!”
Und dann sagt Forugh Farrokhzad:
“Ich sagte: es reimt sich auf Quark!”
Ich sage:
“Nein! Meine verbitterte Schwester, nein!
Iran muss man nur mit Ruine reimen
nur mit Ruine.
Und dann erschreckte ich wieder die Großmutter.
Ich sagte:
“Letzte Nacht träumte ich wieder vom letzten Imam:
er hatte keinen Kopf;
und sein Hals
war eine Fontäne, aus der Blut herausspritzte,
kein Zweifel, Zoljenah war sein Pferd ,
und Zolfaqar sein Schwert;
Und keinen
von seinen unzähligen Jüngern
hielt er für aufrichtig und ehrlich;
Und der Blitz seines Schwertes
erhellte immer wieder
die angstzerfressenen, dunklen Horizonte,
geräuschlos aufflammend;
Und,
solange einer von denen, die aus aller Welt zu seinem Empfang gekommen
waren, am Leben war,
ließ er vom Töten nicht ab.”
Und dann waren Großmutters Brillengläser wieder tränennass.
Und dann,
– als wollte ich meine eigene Großmutter erschrecken –
sage ich
zur alten Frau im Zugabteil:
“Ich bin vom Stamme der Menschenfresser.”
Sie fragt:
“Come?”
Ich sage:
“Im tiefen Dschungel meiner Geschichte sind Menschenfresser
wiederauferstanden;
Und mehr als meine Seele haben sie
mein Blut
und meine Heimat,
meine Sitten zerstört,
meine Ideale
und meinen Glauben
meine Mitmenschen
und mein Leben …”
Ach, diesmal steigen die Gifte vom Wurzelstock
zu den Blättern.
Diesmal sind nicht Fremde zu beklagen,
Der Todesgeruch kommt auch aus den versteckten Tiefen unserer
eigenen Seele.
Nein!
Nicht dieser oder jener ist zu beklagen,
denn diesmal
stammt die Feder, die den Pfeil des Feindes zum Fliegen brachte
– die Axt,
die den jungen Stamm unseres Liebesfluges von der Wurzel abhackte –
“aus unserem eigenen Flügel und traf uns im Flügel…”
Ich sprach versunken in meinen eigenen Träumen und Gedanken
aber die kleine alte Frau sagt wieder: “Come?”
Ich sage: “Aber ich habe auch einen Koffer voller Kultur mitgebracht.”
Sie sagt: “Ma, che lingua e questa?”
Ich sehe, daß die kleine alte Frau nicht meine Großmutter ist;
und was Dichtung und Traum,
Albtraum und Dichtung ist
weiß sie nicht.
Und dann sage ich mir in Gedanken:
“Zuerst das Meer und dann was auch immer
und wer auch immer
wo auch immer.
Und meine Bücher verliere ich diesmal auch nicht.”
Und dann…
Ach ja … es war genau hier
als ich an ihren Haaren roch;
ihre Augen küßte;
und die Unruhe ihrer Brüste zum ersten Mal
auf meiner Brust
spürte.
Und nun macht jener bunte Wolkenfleck den Eindruck,
als könnte ich aus dem Diadem des Mondes einen Hammer schmieden
und das malerlose kleine Meisterwerk
mit dem Hakennagel eines Sterns
an der Wand des Abends
befestigen.
Und dann, die Liebe,
die eine andere Form des Lachens war;
mit einem Mund, der einen Vulkan von Freude barg
in einer Zeit, in der ich dunkler sein könnte als die Seele eines Berges voller Trauer.
Und dann,
– die Sonne sei mein Zeuge –
ich durchquerte Meere von Hass,
ohne nass zu werden.
Und dann,
sehe ich die Katze der Wellen, die wieder da ist
und sich an meinen Beinen reibt;
Und das Meer hat den fließenden Duft seiner eigenen Umarmung;
Und das Meer liebt mich
noch immer
Frau Xanthippe
ganz Busen und Schenkel!
Und dann,
sehe ich nicht auf mich,
nein,
ich schaue nicht auf mich;
Denn ich weiß,
unter all diesen Alterslosen,
bin allein ich um zwanzig Jahre gealtert.♦
Borgio Verezzi, im Februar 1984
Aus dem Persischen von Nima Mina*
© Esmail Khoi & Nima Mina
*Der Autor hat Germanistik, Komparatistik und Musik in Marburg und Montreal studiert. Er hatte Lehr- und Forschungsaufträge an der Ohio State University, der University of Utah und University of Michigan in Ann Arbor und SOAS University of London. Seit Januar 2021 ist Nima Mina Mitarbeiter von Centre d’études et de recherches sur les littératures et les oralités du monde (CERLOM), Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO) in Paris. Forschungsschwerpunkte: Europäischer Orientalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Exilliteratur, Memoirenliteratur, Politik und Kultur im nachrevolutionären Iran.
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