WO ICH STERBE IST MEINE FREMDE

Der Dichter und Essayist SAID wurde 1947 in Teheran geboren. Vergangenen Samstag verstarb er in München, wo er seit 1965 lebte und arbeitete. Sein eigentliches Zuhause war die deutsche Sprache. Ein persönlicher Nachruf von Maryam Aras.

Du kannst dir nicht aussuchen, wie sehr die Welt dich mitnimmt, sagt mein Vater und ich nicke. Das haben sie gemein, die Welt hat sie mitgenommen, geworfen, berührt. Von ihrer Jugend bis jetzt. Während die meisten der alten Freunde längst wieder die Familie im Iran besuchten, blieben sie am Gate zurück. Diesen Preis zahlen von der Welt Berührte, wenn sie sich einmal entschieden haben, nicht still zu bleiben. SAID hat bis zuletzt seine Stimme erhoben, und er kritisierte aus einer tiefen Menschlichkeit heraus – die herrschende Politik in seiner alten Heimat Iran und in „seiner Fremde“, wo er nun, wie er es lange vorausgesehen hatte, gestorben ist.

Geliebte, / auf diesen Straßen kann ich / nicht einmal Deine Hand halten. / Wie verspottet hier / die Liebe ist. / Wo ich sterbe / ist meine Fremde, schrieb er 1979 in jenen sechs Wochen, in denen er – wie so viele – hoffnungsvoll in den Iran zurückgekehrt war. Aber es blieb nur ein kurzes Zwischenspiel, wie er in diesem Gedicht andeutet, dessen letzte Zeilen seinem wohl bekanntesten Lyrikband von 1984 den Titel gaben. Dieser Band liest sich wie ein lyrisches Tagebuch seines Iran-Aufenthaltes kurz nach der Revolution: zunächst voller Erwartungen (Wie gütig / die Passanten sind – / sie sprechen Persisch!), dann immer ernüchterter ob der Heimat, die nicht mehr die alte ist, und der neuen Ideologie, die überall um sich greift.

Kollektives Trauma

Die Revolution, die anders hätte enden sollen, ist das große kollektive Trauma der Exilant*innen aus SAIDs Generation. Es waren nicht zuletzt die Aktivst*innen der Konföderation Iranischer Studenten/National Union (CISNU), die das internationale Ansehen des Boulevard-Kaisers auf dem Pfauenthron zu Fall brachten. Ihr Aktivismus begann weit vor jenem 2. Juni 1967, der die deutsche Studentenbewegung einleitete, und endete über ein Jahrzehnt nach 1968. Und doch waren mein Vater und SAID, die sich kurz nach dessen Ankunft in München zum ersten Mal begegneten, auch Teil der deutschen 68er-Bewegung. Organisations- und demonstrationserfahren halfen sie, den Protest gegen autoritäre Strukturen und ehemalige Nationalsozialisten, die an den Unis und in der Politik immer noch in Amt und Würden saßen, auf die Straße zu tragen. Said Mirhadi, wie er 1965 hieß, war jünger als die meisten und zunächst politisch noch unbedarft. Er kam aus gehobenem Elternhaus, sein Vater war ein Schah-treuer Offizier und versuchte ihn im Laufe der Jahre mehr als einmal von seiner Politik abzubringen. Vergebens, natürlich. Said Mirhadi war mehrere Jahre lang Vorsitzender der in Deutschland aktiven CISNU, bis er sein ungeliebtes Politikstudium abbrach und SAID, der Dichter und Essayist, wurde. Seine Notizen machte er auf Persisch, seine Texte veröffentlichte er seit Anfang der 1980er Jahre auf Deutsch.

Wir haben die [Klerikalen] nicht ernst genommen. Ich habe auch nach Khomeinis Machtübernahme nicht geglaubt, dass er sich lange hält, dass diese heterogene iranische Gesellschaft ihm erlaubt, die Kultur quasi abzuschaffen. Aber die Kultur ist eine sehr zierliche, verletzbare Pflanze“, sagte SAID 2009 im Interview mit Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau.

Die verlorene Mutter

Die gestohlene Revolution war eine frühe Enttäuschung in SAIDs Leben, eine noch frühere war die Abwesenheit der Mutter, die ihn schon kurz nach der Geburt bei der Familie des Vaters zurücklassen musste und in ihr Dorf im Nordiran zurückkehrte. Einen späten Versuch der Annäherung beschreibt er in schmerzlich dichter Prosa in seinen Landschaften einer fernen Mutter, das 2001 bei C.H. Beck erschien. Als er 43 Jahre alt ist, trifft er die Mutter in der Wohnung des Halbbruders in Toronto. Drei Wochen verbringen die beiden zusammen auf engem Raum. Die Unmöglichkeit einer echten Begegnung scheint schon in der Versuchsanordnung angelegt: Beide haben Erwartungen, die der/die andere nicht erfüllen kann. Sprachlich, emotional, physisch – sie finden nicht zueinander. Neben dieser Tragik, die SAID an einigen Stellen dazu verleitet, seine gewohnte nüchterne Art abzustreifen, verhandelt er viele politische Aspekte mit: Die demütigende Visakontrolle als Staatenloser und auch die Missbilligung der Mutter seines absolut nicht nach materialistischen Zielen ausgerichteten Lebens fangen für seine Generation typische Wesensmerkmale künstlerisch ein.

Haltung und Höflichkeit

Als ich SAID im Sommer 2016 auf der Verleihung des Friedrich-Rückert-Preises zum ersten Mal begegnete, hatten wir schon über viele Monate Emails ausgetauscht. Ich hatte vor, ein Radiofeature über die iranische Studentenopposition und die deutschen 68er zu schreiben und es auch entlang seiner Literatur zu erzählen. In jeder Mail schickte er mir ein Gedicht oder ein Stück Kurzprosa von sich mit. Die Preisverleihung im Schweinfurter Rathaus war hochoffiziell und die Reden der Rückert-Vertreter und des Oberbürgermeisters der Stadt überaus wertschätzend. Oft fiel das Wort „Brückenbauer“. In seiner Dankesrede verwies SAID an mehren Stellen auf heutige Flüchtende, denen Friedrich Rückert gleichgestellt begegnet wäre, auf Kolonialismus und die Rüstungsindustrie des Westens, die noch an den Spätfolgen ihrer Fremdherrschaft verdiene und die der „ewige Pilger“ Rückert wahrscheinlich nicht befürwortet hätte. Er verwies auch auf „den politischen Islam“ als kurzsichtige Antwort auf die Kolonisatoren. Erst im Zug auf dem Rückweg nach Köln dachte ich über SAIDs künstlerisch-diplomatischen Balanceakt nach, allen politischen Würdenträgern in seiner ausgesucht höflichen Art die Hand zu schütteln, Konversation zu machen und dann eine im Ton nicht weniger höfliche Dankesrede zu halten, die dem CSU-Bürgermeister in der ersten Reihe politisch wahrscheinlich wenig zugesagt hat.

Sprachliche Schärfe

Ganz und gar bei sich schien SAID, als er am 14. Oktober 2017 auf der Frankfurter Buchmesse die Laudatio für die iranische Schriftstellerin Fariba Vafi hielt. Sie bekam den „LiBeraturpreis“ des Vereins Litprom für ihren Roman Tarlan überreicht. SAID selbst hatte Vafis ersten Roman mit großer Begeisterung gelesen und schließlich die Übersetzung von Parvin Abkai beim Rotbuch Verlag untergebracht. Die Sprachen der beiden Autor*innen – die eine auf Persisch schreibend, der andere auf Deutsch, sind verwandt. Fariba Vafi schreibt eine klare, jedoch poetische Alltagsprosa. Sie erzählt von Frauen, die ihre von Familie und Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen eingehend betrachten, um schließlich ihre eigenen Wege zu gehen. SAIDs nüchterne, jedes Wort, jede Silbe abwiegende Lyrik (und ebenso Prosa) erinnert auch an sein iranisches Vorbild Ahmad Schamlu, den wohl wortgewaltigsten Vertreter der persischsprachigen Neuen Dichtung, die sich ab der 1920er Jahre den stilistischen Zwängen der klassischen persischen Poesie entledigte. Seine sprachliche Schärfe bricht SAID jedoch auch mit Motiven aus der persischen Natur- und Liebeslyrik.

Fariba Vafi und SAID haben sehr schnell Freundschaft geschlossen. Sie in ihrer Berliner Künstler*innenresidenz zu treffen ist nun ein Besuch, den er nicht mehr antreten kann.

Rauchen und weinen

Am 14. Oktober 2017 war ich mit meinem Vater zur Preisverleihung gekommen. Die beiden alten Freunde hatten sich seit ungefähr zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. SAID weinte, als sie sich umarmten. Überhaupt weinte er oft vor Rührung, auch in der Öffentlichkeit, erzählte mein Vater. Welch schöne Geste seinen Mitmenschen gegenüber. Nach den Feierlichkeiten verschwanden SAID und mein Vater vor die Tür der Messehalle. Er wollte rauchen, sie hatten sich viel zu erzählen.

Das Radiofeature, für das ich SAID gerne in München interviewen und begleiten wollte, ist nie zustande gekommen. Die Redaktion hatte einen offiziellen Auftrag ausgesprochen. Nach Schweinfurt war ich bereits mit meinem Aufnahmegerät gereist. Doch SAID war mit dem Rahmen seines Mitwirkungsvertrages nicht einverstanden. Lange war ich enttäuscht und habe über seine Beweggründe nachgedacht. Heute verstehe ich, dass es nicht um rechtliche Details ging, die er doch besser zugunsten des Projekts hätte akzeptieren sollen. Ihm ging es um seine Prinzipien.

Wenn ich nun seine Biographie Revue passieren lasse und an all die Abzweigungen denke, die SAID aus seinem Gewissen heraus nicht genommen hat, muss ihn die Absage dieses Projekts wahrscheinlich wenige Minuten Bedenkzeit gekostet haben.

Sicher hat es ihn geschmerzt, dass er nicht die öffentliche Anerkennung erhielt, die sein literarisches Werk verdient gehabt hätte. Von der Germanistik wurde er meist in die Kategorie „Migrantenliteratur“ eingeordnet, die die „Gastarbeiterliteratur“ abgelöst hatte. Es muss bitter für ihn gewesen sein, eine dritte große Enttäuschung, dass nicht seine deutsche Sprache in all ihrer brillanten Schärfe stets das erste Wesensmerkmal war, mit dem seine Texte von der deutschen Kritik assoziiert wurden, sondern – wenn er denn Aufmerksamkeit bekam – seine Biographie und Herkunft. Dabei hätte er diese Aspekte seines Seins und Schaffens sicher nicht voneinander trennen wollen. Gerade SAIDs künstlerische und politische Aufrichtigkeit wird fehlen, seine aller überflüssigen Hüllen entledigte Sprache und Menschlichkeit.♦

  MARYAM ARAS

© Iran Journal

Zur Startseite

Diese Beiträge können Sie auch interessieren:

Abbild eines gebrochenen Revolutionärs

„Der standhafte Papagei“