Esmail Khois Rückkehr nach Borgio Verezzi

Ein wichtiges Thema, das in den Folgejahren nach der Konsolidierung der Theokratie iranische Intellektuelle im inneren und äußeren Exil beschäftigt hat, ist die Frage, wer für die “Katastrophe” verantwortlich sei. Khois Antwort, die er durch den Erzähler formuliert, ist, dass man die Ursachen für diese tragische Wendung in der iranischen Geschichte nicht in einer Verschwörung von außen suchen sollte. Die “Kannibalen” – sprich: die radikalen Islamisten – sind ein Teil der iranischen Bevölkerung und ihre Weltanschauung basiert auf Schattenseiten der iranischen Kultur. Der todessüchtige schiitische Märtyrerkult und die Blutrünstigkeit von Khomeinis politischem Islam haben auch ihre Wurzeln in der einheimischen iranischen Kultur. Das Intolerante und Gewaltsame einerseits und das Friedvolle und Tolerante, wofür zum Beispiel der von Khoi angerufene Dichter Hafis an exponierter Stelle steht, sind zwei Seiten des islamischen Elements in der iranischen Kultur und Gesellschaft.

Suche nach Geborgenheit in der Erinnerung

Der Ich-Erzähler, der sich zuvor in Zeit- und Raumsprüngen verlor, wird von der alten Italienerin mit der schlichten Frage “Come? Ma che lingua e questa?” in das Hier und Jetzt zurückgeholt. Er konzentriert sich nunmehr auf das Meer und die Landschaftsbilder, die er wie ein Naturkunstwerk empfindet. Er sucht Geborgenheit in der Erinnerung an seine Geliebte, die ihn vor zwanzig Jahren zum ersten Mal an diesen Ort geführt hat. Konfrontiert mit einer Landschaft, die sich seit dem ersten Besuch kaum verändert hat, wird er sich umso mehr seines Alterns bewusst. Zwischen heute und damals ist vieles passiert: verheerende gesellschaftliche Umwälzungen in seiner alten Heimat, die sein Exil und sein Leiden verursacht haben.

Khoi verwendet die Lyrik als Vehikel zur Formulierung von philosophischen und politisch-gesellschaftlichen Gedanken. Dies kann der Leser nur dann erschließen, wenn er umfangreiches soziokulturelles Wissen mitbringt, das weit über das im Gedicht Ausgesprochene hinausgeht. Außerdem kommt ein weiterer, delikater Aspekt hinzu, der eine Begleiterscheinung der sozial engagierten Gedichte Khois ist, in denen fast immer eine – wenn auch kaschierte – appellative Textfunktion dass Leser zur Parteinahme auffordert.

Man muß das Gedicht nicht nur sachlich verstehen, sondern auch mitfühlen. Der Leser muss versuchen, solidarisch auf der Seite Khois zu stehen und die Schmerzen von Exil, Entwurzelung und die Schrecken der Gewaltherrschaft in der verlorenen Heimat mit ihm zusammen zu fühlen, ansonsten scheitert die Kommunikation zwischen dem Dichter und dem Leser, genauso wie sie im Text zwischen dem Ich-Erzähler und der alten Italienerin nicht zustande kommen kann.

Damit ist er nicht mehr nur ein persisches Gedicht, sondern gehört zum weltliterarischen Genre der Exillyrik, mit dem “solidarische Leser”, unabhängig von ihrem eigenen geographischen Standpunkt und ihrer Herkunft, eine Verbindung suchen und damit ihren eigenen Gegenwartsbezug herstellen.

Die deutsche Übersetzung des Gedichts auf Seite 4