Esmail Khois Rückkehr nach Borgio Verezzi

Daraufhin führt das lyrische Ich ein imaginäres Gespräch mit dem Dichter Hafis, wo es zugibt, dass es wie auch Hafis im hohen Alter verliebt und vernarrt ist. Der Blick des Erzählers wird auf seine einzige Mitreisende im Zugabteil gerichtet. Es ist eine alte Dame, eine Italienerin, mit der er ein Gespräch führt, bei dem aber keine wirkliche Kommunikation stattfindet. Sie erinnert den Erzähler an seine eigene Großmutter.

Die Großmutter ist seit den 1960er Jahren eine häufig wiederkehrende Figur in Khois Lyrik. In seiner Exillyrik tritt sie immer dann auf, wenn er sich in den Landschaften des Exils verloren fühlt und nach mütterlicher Geborgenheit sucht. Er sehnt sich nach dem Iran, seiner “Großmutter Heimat”, zurück, zu der er ein widersprüchliches Verhältnis hat. In Khois Texten verkörpert die Großmutter die tiefe Religiosität der alten Heimat, unter der er in seiner Geburtsstadt Maschhad gelitten hat. Schließlich musste er 1984 ins Exil gehen, weil die Theokratie sein Leben bedrohte.

Gespräch mit der verstorbenen, revoltierenden Dichterin

Aber die alte Dame im Zugabteil ist nicht seine Großmutter, sie scheint nicht einmal den Ländernamen Iran zu kennen. Und bald wandern die Gedanken des lyrischen Ichs aus dem Zugabteil zu einer anderen Person in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Es spricht jetzt mit der iranischen Dichterin Forugh Farrokhzad, einer der wichtigsten Schöpferinnen der lyrischen Moderne in Iran. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde sie dadurch bekannt, daß sie sich von den Zwängen der religiös beeinflussten Tradition befreite und mit ihrer Lyrik die ethisch-moralischen Tabus der iranischen Gesellschaft brach. Forugh verunglückte im Alter von 32 Jahren.  In der Bilderwelt Khois bildet die jung verstorbene revoltierende Dichterin, die zu Lebzeiten von selbsternannten Hütern der gesellschaftlichen Ethik diffamiert wurde, einen Kontrast zur alten Großmutter, die die Tradition verkörpert und zugleich auch ihr Opfer ist.

Wieder kehren die Gedanken des lyrischen Ichs zur Großmutter zurück und es erinnert sich an ein böses Spiel, das es oft mit ihr getrieben hat. Es erzählte ihr, es habe vom Ende der Zeit und der Rückkehr des verborgenen Imams Mahdi geträumt. Dieser hätte all diejenigen, die ihn empfangen und seine Rückkehr feiern wollten, massakriert, weil er sie nicht für aufrichtig hielt.

Traum und Alptraum

Die Horrorbilder sind aus einem Traum, den der Erzähler früher nicht ernst nahm und mit dem er nur seine geliebte und abergläubische Großmutter quälte. Der verborgene Prophetennachfolger aus dem Traum wird aber im Alptraum des wirklichen Lebens zu Khomeini, der am 1. Februar 1979 bei seiner Rückkehr aus dem Exil von Millionen Menschen im Iran empfangen und gefeiert wurde. Bald nach seiner Ankunft entlarvte er sich aber als blutrünstiger Despot, der selbst für seine einstigen Anhänger, die ihm zur Macht verholfen hatten, keine Gnade zeigte. Im Juni 1981 und sieben Jahre später im September 1988 ließ Khomeini in zwei großen Massenhinrichtungswellen Tausende von politischen Gefangenen größtenteils ohne Gerichtsverhandlung exekutieren. Die Opfer vertraten eine Vielfalt von politischen Ansichten und waren zum Großteil Mitglieder von diversen religiösen und laizistischen politischen Organisationen, die während der Revolution und kurz danach Khomeinis Hegemonie akzeptiert und seinen Weg zur Macht geebnet hatten.

In der nächsten Strophe ist der Erzähler abermals zurück im Jetzt und bei der Italienerin im Zugabteil. Er spricht mit ihr, aber sie versteht ihn nicht. Abgesehen von der sprachlichen Barriere ist die Kommunikation von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn das, was er sagt, hat in der Lebenswelt der Italienerin keine Entsprechung und ist so für sie nicht nachvollziehbar. In jedem seiner Sätze stecken Gedanken, die zu verstehen historische Kenntnisse und vor allem die Subjektivität und Erfahrungswelt eines politisch engagierten iranischen Exildichters aus den 1980er Jahren erfordert.

Zwei Seiten des islamischen Elements
Fortsetzung auf Seite 3