Die Engel des Krieges
Zehn Jahre nach „Eine iranische Liebesgeschichte zensieren“ liegt mit „Augenstern“ ein neuer Roman von Shahriar Mandanipur auf Deutsch vor. Eine Geschichte über den Verlust der Jugend, die Schrecken des Krieges und ein Land im Griff der Diktatur. Gerrit Wustmann hat den Roman gelesen.
Als Amir Yaminis Familie ihn nach langer Suche in einer Nervenheilanstalt für Kriegsversehrte findet, ist der Iran-Irak-Krieg längst vorbei. Fünf Jahre hat er zwischen den Mauern der Klinik vegetiert, hat durch eine Granate seinen linken Arm und die meisten Erinnerungen verloren. Nur eine Gewissheit zeichnet sich im Nebel seines Denkens ab: Dass er verlobt war, dass irgendwo da draußen seine große Liebe ist, deren Namen er nicht mehr weiß, weshalb er sie „Augenstern“ nennt.
„Augenstern“ – so lautet auch der Titel des neuen Romans von Shahriar Mandanipur, der auf Wunsch des Autors nicht aus dem Persischen, sondern anhand der englischen Übersetzung von Sara Khalili durch Regina Schneider ins Deutsche übertragen.
Es ist das erste neue Buch von Mandanipur seit seinem gefeierten Roman „Eine iranische Liebesgeschichte zensieren“ (2009). Mandanipur wurde 1957 in Schiraz geboren und publiziert seit den späten Achtzigern. Romane, Kurzgeschichten, Essays. Er war selbst Soldat im Iran-Irak-Krieg, man darf also annehmen, dass viele Passagen des Romans autobiografische Züge tragen. In den Neunzigern wurden seine Texte mehrfach zensiert. Seit 2006 lebt er im amerikanischen Exil, schon zuvor war er mehrfach für Vorträge und Gastprofessuren in die USA gereist, wo er heute Literatur und Film unterrichtet.
Die Mechanismen der Zensur
Die Zensur in der Islamischen Republik war das Kernthema des Vorgängerromans, in dem Mandanipur die Mechanismen der Zensur ebenso aufzeigte wie die Taktiken iranischer Autoren, sie zu umgehen, indem sie problematische Inhalte verschleiern, symbolisch darstellen, in Gleichnissen und Andeutungen erzählen.
„Augenstern“ muss nicht auf solche Tricks zurückgreifen und spielt doch mit dem nur scheinbaren Widerspruch zwischen islamischer Tradition und einem ausschweifenden Erzählen, in dem explizite Sexszenen und die blutige Realität des Krieges eine zentrale Stellung einnehmen. Die Erzähler sind dabei die aus den Hadithen stammenden Engel auf Amirs rechter und linker Schulter. Der eine zeichnet die guten, der andere die schlechten Taten auf. Und da es in der Realität keine klare Grenze zwischen Gut und Böse gibt, geraten die Engel immer wieder in Grauzonen und verheddern sich darin.
Ihre Aufzeichnungen sind nonlinear. Sie erzählen auf drei Zeitebenen: Amirs hedonistisches Leben vor dem Krieg, während des Krieges und danach, wie er gemeinsam mit seiner Schwester Reyhaneh versucht, seine Erinnerungen zusammenzustückeln in der Hoffnung, Augenstern zu finden, denn er ist überzeugt: Mit ihr wird nicht nur die Erinnerung zurückkehren, sondern auch die geistige Gesundheit. Dass er sich in seiner Verzweiflung irgendwann entschließt, den auf dem Schlachtfeld verlorenen Arm zu suchen, an dessen Hand er den Verlobungsring vermutet, ist in diesem Kontext weit mehr als eine augenzwinkernde Überdrehung der Handlung.
Vom Schürzenjäger zum Frontkämpfer im Schützengraben
Vor dem Krieg, als junger Mann, war Amir ein Schürzenjäger, der sich quer durch Teheran vögelt und es mit der Treue zu seiner Freundin Khazar nicht allzu genau nimmt. Zwar werden die ausschweifenden, schweiß- und spermatriefenden Sexszenen allzu rasch ermüdend, aber sie sind wohl in gewisser Weise notwendig, zeichnen sie doch den Kontrast zu Amirs religiöser Familie umso deutlicher.
Im jugendlichen Überschwang wird Amir von der islamischen Revolution überrascht. Plötzlich ist der sorglose Lebemann ohne Bart und mit langen Haaren ein Feindbild der auf den Straßen marodierenden Khomeini-Anhänger, die Kinos anzünden und Andersdenkende verfolgen. Und als es zur Katastrophe kommt, Khazar Selbstmord begeht und Amir von den Revolutionsgarden festgenommen und ausgepeitscht wird, muss sein Vater, der Agha Hadji, ihn rauspauken, um Schlimmeres zu verhindern, was damit endet, dass Amir in den Schützengräben an der Front landet, Nächte zwischen Leichenteilen verbringt und zu überleben versucht, bis diese eine Granate seinen Einsatz beendet.
Amir ist tief gespalten. So ganz traut er Reyhaneh nicht, und auch der Leser ahnt: Sie weiß mehr, als sie ihm über seine Vergangenheit offenbart und über die Konflikte innerhalb der Familie, die letztlich auch die Zerrissenheit des Landes spiegelt, die Bruchlinien aufzeigt, die vom Politischen rasch bis in jede Pore des Privaten drangen und schließlich auch das Zwischenmenschliche erodieren ließen.
Amirs Schicksal stellvertretend für Iran
Amirs verlorene Erinnerung, das ahnt man rasch, wird sich nicht mehr finden, sein Leben wird ein Puzzle aus Träumen, Erinnerungsversatzstücken, Imaginiertem und dem bleiben müssen, was die anderen ihm von früher erzählen, und auch das nie klar, was wahr ist und was erfunden.
So steht Amirs Schicksal stellvertretend für den Iran vor und nach der Revolution, vor und nach dem Krieg, für die unverstellte wie für die zensierte Geschichtsschreibung und die darüberliegenden Narrative der Revolutionäre.
Und trotz der recht einfachen und linearen Rahmenhandlung verlangt Mandanipur seinen Lesern viel Geduld ab, lässt sie im Geiste immer wieder einige Puzzlestücke vorgreifen, bis der eine oder der andere Engel etwas aus seinen Aufzeichnungen kramt, das Licht ins Dunkel um Augenstern bringen soll, dabei aber nur neue Schlachtfelder auf den alten eröffnet – während Amir seine Tage zwischen seinem kargen, spärlich eingerichteten, auf Verzicht und Demut ausgerichtetem Zimmer und dem sonnendurchfluteten paradiesischen Garten verbringt, in dem er manchmal einen flüchtigen Blick auf seinen Vater erhascht.
Dieser geht Amir aus dem Weg, tut so, als wäre der verlorene Sohn noch immer verloren, einer, für den es keine Heimkehr geben kann. Es sind diese krassen Kontraste und Gegensätze, die stets ins Unschärfen verschwimmen, die den ganzen Roman prägen, ihm seinen Ton und Rhythmus geben, und in dem es eines nicht gibt: Halt. Nichts, woran man sich festhalten, sich orientieren kann.
Und das ist, neben den Einblicken in das, was Politik mit einem Leben machen kann, seine große Stärke: Amirs Verlorenheit trotz aller Übersteigerungen, trotz der gelegentlichen Klischees, so greifbar zu machen.
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Shahriar Mandanipur: „Augenstern“, Roman, Aus dem Englischen von Regina Schneider, Unionsverlag 2019, 448 Seiten, ISBN 978-3-293-00557-0
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