Ein iranischer Spion in Westfalen

Ein junger Iraner wird als Agent nach Deutschland geschickt. Als Student soll er Informationen über den Westen sammeln – und landet in Westfalen. Ein Roman über Heimat, Familie und Freiheit.

Von Jochen Overbeck

„Deine Finger, Soldat, brüllt der General, deine Finger gehören deinem Land, und darum gehören sie auch an keinen anderen Ort als den Abzug deines Gewehrs. Das Volk will es so.“ Der junge Soldat Reza ist ein vorlauter Bengel, ein wilder Hund, der sich auf seine Herkunft aus einer wohlhabenden Familie verlässt. Aber jetzt steht er da vor seinen Vorgesetzten, womöglich wird er erschossen, er hat Glück, landet lediglich im Kerker. Und da er ein helles Köpfchen ist, wird er entlassen – und zum Agenten: Er soll in Deutschland studieren. Die Kenntnisse des Westens in seine Heimat transferieren.

Nach einigen Umwegen landet er in Westfalen, wo er Agrarwissenschaften studiert. Seine Wege kreuzen sich mit jenen von Clara, der Tochter einer Kürschner-Dynastie. Ein richtiges Paar sind die beiden nicht, aber Clara, mit einem Rumänen verheiratet und bereits Mutter, bekommt ein Kind von him.

In der erzkonservativen Umgebung ihrer Heimatstadt müht sie sich nach Kräften, einen eigenen Weg zu finden. Reza ist dabei keine Hilfe. Er ist ein Entwurzelter, blitzgescheit, mit Hang zur Provokation, aber eigenartig ratlos und eigentlich an eine andere Familie gebunden. Der gemeinsame Sohn Niklas kommt nach der iranischen Revolution zur Welt; einer Zeit, in der Reza nicht nur der finanzielle Boden unter den Füßen längst weggebrochen ist. Dementsprechend wenig kümmert sich Reza um Niklas. Er lebt mit seiner eigentlichen Familie längst im Südwesten – und ist dennoch ständig präsent, und sei es in den Beleidigungen und Vorurteilen, die Kinder, Erwachsene, ach, selbst die eigenen Verwandten Niklas wegen seines vermeintlichen Migrationshintergrundes entgegenschleudern.

Hulpe, Marius: "Wilde grüne Stadt: oder Im Labyrinth des entwurzelten Lebens", DuMont Buchverlag, 400 Seiten.Marius Hulpe stammt selbst aus Soest, wie die Menschen dort ticken, dürfte ihm also gut bekannt sein. „Wilde grüne Stadt“ ist sein Debütroman, dennoch kann er bereits auf eine beachtliche Anzahl an Arbeiten zurückblicken. Er schrieb in den vergangenen Jahren Essays und journalistische Texte, vor allem aber einige vielgelobte Gedichtbände.

Diese Wurzeln bemerkt man als Leser durchaus, Hulpe ist ein hervorragender Stilist. In „Wilde Grüne Stadt“ folgt er indes einer recht strengen Form: Seine durchgängig im Präsens gehaltenen Schilderungen aus der deutschen (und einige Male iranischen) Provinz, die fast protokollhaften Ereignisbeschreibungen und die nie schrulligen, aber doch von ihren Erfahrungen gekennzeichneten Charaktere sind akkurat angelegt.

Wenn da vom Schützenumzug erzählt wird oder aus dem Klassenzimmer; wenn in langen Passagen berichtet wird, wie Niklas von seiner Mutter, die ja entsprechende Kompetenzen besitzt, ein Wolfskostüm zu Fasching geschneidert wird und dieses Echtfell-Ungeheuer die ganze Schule nachhaltig verstört, oder das ganze Elend des Ministrantendaseins seitenlang ausgewälzt wird, dann hat das beinahe dokumentarischen Charakter. Vor allem aber wertet Hulpe wenig. Selbst die engsten, provinziellsten Sichtweisen schildert er – nun, nicht mit Verständnis, aber mit einer gnädigen Distanz.

In den letzten Kapiteln des Buches ändert sich die Blickrichtung. Der breite, nostalgische Bilderbogen, an dem man sich trotz aller Widrigkeiten laben konnte und der schon mit der zeitlichen Verortung im letzten Jahrhundert so wohltuend fern wirkte, mündet in einem sehr gegenwärtigen Setting. Alle Protagonisten, so hat man am Ende den Eindruck, sind selbst erschöpft von dieser Familiengeschichte, wissen nicht so recht weiter. Noch einmal wird der Heimatbegriff durchdekliniert, diesmal sehr konkret.

Wo ganz am Anfang Heimat eine Zustandsbeschreibung ist („Grüner Sandstein. Sieben Kirchen. Rosenstöcke, Gräfte, Wall.“), sind die Dinge in der jüngsten Vergangenheit komplizierter. Es ist 2009. Im Iran sind Wahlen, Reza sitzt tagelang vor den Bildschirmen. Später marschiert er weit hinein ins offene Land. In einer Kneipe legt er sich mit den Betreibern an. „Ich bin genauso Kurpfälzer wie du“, sagt er – und wird zunächst belächelt und dann hochkant hinausgeschmissen.

Es ist eine große Geschichte, die Hulpe erzählt. Eine, die man als Heimatroman lesen kann, die aber auch viele andere Fragen aufwirft. Was ist Familie? Wie sehr prägt sie uns? Kann man frei sein, wenn das eigene Umfeld diese Freiheit nicht akzeptieren wird? Antworten gibt Hulpe keine, auch das Wissen, dass das Leben in der Provinz nicht mehr so rigiden Regeln folgt wie noch vor 30, 40, 50 Jahren, hilft nur bedingt weiter: Im Iran (und in vielen anderen Ländern der Welt) ist es schließlich genau andersrum.

© Jochen Overbeck
 
Erstveröffentlichung in Spiegel.de
 
Hulpe, Marius: „Wilde grüne Stadt: oder Im Labyrinth des entwurzelten Lebens“, DuMont Buchverlag, 400 Seiten.
 
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