Wenn Armut Bildung frisst: die stille Krise in Irans Schulen
Ein Bericht des Forschungszentrums des iranischen Parlaments offenbart, wie eng Bildungsarmut in Iran mit wirtschaftlicher Not verknüpft ist. Während reiche Haushalte ihre Kinder gezielt fördern können, fehlt es benachteiligten Familien an grundlegenden Möglichkeiten. Und die Kluft wird immer größer – mit weitreichenden Folgen für das Bildungssystem, die Gesellschaft und die Zukunft des Landes.
Ein aktueller Bericht des Forschungszentrums des iranischen Parlaments mit dem Titel „Monitoring der Dimensionen der Bildungsarmut in Iran 2023“, veröffentlicht am 10. Mai 2025, macht deutlich, wie tief die sozialen Gräben im Bildungsbereich verlaufen. Die Daten zeigen, dass der Anteil der Bildungsausgaben an den gesamten Haushaltsausgaben in den letzten fünf Jahren dramatisch gesunken ist: von 4,72 Prozent im Jahr 2018 auf nur noch etwa ein Prozent 2023. In den untersten drei Einkommenszehnteln hat sich dieser Rückgang besonders drastisch ausgewirkt und zu einer Verfestigung von Bildungsarmut geführt.
Dabei zeigen sich enge Zusammenhänge zwischen der ökonomischen Situation von Familien und den Bildungschancen ihrer Kinder. In den ärmsten Bevölkerungsschichten verfügen 54 Prozent der Eltern nicht über einen Schulabschluss. Schüler*innen, deren Eltern kein Abitur haben, erreichen im Durchschnitt eine Lesekompetenz von 359 Punkten, während Kinder aus akademisch gebildeten Haushalten im Schnitt bei etwa 440 Punkten liegen. Zugleich ist die Quote junger Erwachsener zwischen 18 und 24 Jahren, die keinen Schulabschluss erreichen, in benachteiligten Regionen besonders hoch: In Sistan und Belutschistan beispielsweise haben über 58 Prozent dieser Altersgruppe kein Abschlusszeugnis. Der Anteil der Bildungsausgaben an den Gesamtausgaben der iranischen Haushalte liegt 2023 im Landesdurchschnitt bei 1,01 Prozent – in ärmeren Haushalten deutlich darunter.
In diesem Kontext verzichten viele einkommensschwache Familien nicht nur auf zusätzliche Bildungsinvestitionen, sondern ziehen ihre Kinder manchmal sogar ganz aus dem Schulsystem zurück. Die Gründe dafür reichen von unmittelbaren Kosten für Schulmaterialien bis hin zu dem Verdienstausfall, der durch den Schulbesuch eines Kindes entsteht.
Ein Schulsystem am Rand seiner Leistungsfähigkeit
Neben den sozioökonomischen Herausforderungen offenbart der Bericht auch gravierende strukturelle Schwächen im staatlichen Bildungssystem. Die Klassengrößen liegen über dem internationalen Durchschnitt: In Grundschulen kommen im Landesmittel 24,4 Schüler*innen auf eine Lehrkraft, in der Sekundarstufe sind es 26,2. International gelten 21 Schüler*innen pro Klasse als pädagogisch wünschenswert. In abgelegenen Regionen unterrichten Lehrkräfte zudem oft mehrere Jahrgänge gleichzeitig in einem Raum – so sind in Provinzen wie Kohgiluyeh und Boyer Ahmad im Westen des Landes 38 Prozent der Schulklassen sogenannte Mehrstufenklassen.
Hinzu kommt, dass in manchen Provinzen bis zu 24 Prozent der Lehrkräfte keinen Hochschulabschluss besitzen. Die digitale Ausstattung bleibt ebenfalls mangelhaft: Rund 55 Prozent der Schüler*innen wachsen in Umfeldern auf, die kaum Zugang zu Lernmaterialien oder stabilem Internet bieten. Gerade in den unteren Einkommensgruppen ist dieser Mangel besonders ausgeprägt – sei es durch fehlende Infrastruktur, durch nicht vorhandene digitale Endgeräte oder durch einen Mangel an Know-how.
All diese Faktoren tragen dazu bei, dass einkommensarme Familien ihre Kinder oft nicht ausreichend beim Lernen unterstützen können – oder Bildung als aussichtsloses Projekt aufgeben.
Soziale Herkunft entscheidet über Studienplätze
Besonders deutlich tritt die soziale Ungleichheit beim Zugang zur Hochschulbildung zutage. Die Daten zur nationalen Hochschulaufnahmeprüfung aus dem Jahr 2023 belegen, dass Kinder reicher Familien deutlich häufiger erfolgreich abschneiden als jene aus benachteiligten Verhältnissen. So stammen 34,4 Prozent der erfolgreichen Teilnehmer*innen aus den beiden obersten Einkommenszehnteln, während nur 9,1 Prozent aus den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung stammen. Unter den Top-3.000-Platzierungen entfallen sogar über 54 Prozent auf Schüler*innen der beiden reichsten Gruppen, während nur 3,4 Prozent der Schüler*innen aus den untersten Einkommensschichten diese Spitzenplätze erreichen.
Diese Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass der Erfolg bei der Hochschulaufnahmeprüfung – dem essenziellen Zugangstor zu höherer Bildung – weniger vom individuellen Talent als vielmehr vom finanziellen Hintergrund der Familie und dem Zugang zu hochwertiger schulischer und außerschulischer Förderung abhängt. Reiche Haushalte können ihre Kinder auf Privatschulen mit besserer Ausstattung schicken, teure Nachhilfe finanzieren, Lernmaterialien bereitstellen und professionelle Bildungsberatung in Anspruch nehmen. Sie leben in Gegenden mit besser ausgestatteten öffentlichen Schulen und höher qualifiziertem Lehrpersonal. Auf der anderen Seite kämpfen viele Schüler*innen aus armen Familien mit wirtschaftlicher Unsicherheit, familiärem Stress und fehlender emotionaler Unterstützung. Diese Belastungen beeinträchtigen ihre Lernfähigkeit zusätzlich.
Diese Ungleichheiten bleiben nicht auf das Bildungsleben beschränkt, sondern bestimmen maßgeblich auch den weiteren Lebensweg: Wer die Hochschulaufnahmeprüfung nicht besteht, hat so gut wie keine Chance auf ein Studium, auf ein im Arbeitsmarkt gefragtes Studienfach oder später auf eine angesehene und stabile Beschäftigung. Damit wird deutlich: Das Bildungssystem Irans reproduziert soziale Ungleichheit, anstatt sie auszugleichen – mit dramatischen Folgen für die Legitimität und Wirksamkeit von Bildung als Instrument gesellschaftlicher Gerechtigkeit.
Sinkende Kompetenzen, mehr Schulabbrecher*innen
Zwar liegt die Alphabetisierungsrate der über 15-Jährigen laut offizieller Statistik bei etwa 85 Prozent, doch hat sich diese Zahl seit zwei Jahrzehnten kaum verändert. Weitaus besorgniserregender ist jedoch die Entwicklung der Schulabbrüche. Im Schuljahr 2021–2022 blieben über 535.000 Schüler*innen dem Unterricht fern – die meisten von ihnen ab der Sekundarstufe. In der benachteiligten Provinz Sistan und Belutschistan besuchen von 1.000 Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren lediglich 231 eine Schule – 769 sind bereits aus dem Bildungssystem gefallen. Sistan und Belutschistan ist mehrheitlich von Belutschen bewohnt, deren Erstsprache nicht Persisch ist.
Hinzu kommt ein dramatischer Rückgang der Lernqualität. Internationale Vergleichsstudien wie PIRLS und TIMSS zeigen alarmierende Ergebnisse: Beim PIRLS-Test zur Lesekompetenz im Jahr 2022 erreichten 41 Prozent der iranischen Viertklässler*innen lediglich das niedrigste Kompetenzniveau; im weltweiten Durchschnitt sind es sechs Prozent der Schüler*innen, die nur diesen Mindeststandard erreichen. Im TIMSS-Test 2022–2023 schnitten iranische Schüler*innen in Mathematik ebenfalls schlecht ab. In der vierten Klassenstufe lag die durchschnittliche Punktzahl bei nur 420 und damit deutlich unter dem internationalen Referenzwert von 500 Punkten. Im Vergleich zur Untersuchung von 2019, bei der der iranische Durchschnitt noch bei 443 Punkten lag, bedeutet dies einen Rückgang um 23 Punkte. Und während 2019 rund 32 Prozent der iranischen Schüler*innen das Basisniveau nicht erreichten, stieg dieser Anteil 2023 auf 41 Prozent; der weltweite Schnitt liegt bei nur acht Prozent. Iran belegte damit 2023 den 53. Platz unter 58 untersuchten Ländern.
Auch die nationalen Abschlussprüfungen zeichnen ein düsteres Bild: Im Jahr 2023 lag der Durchschnitt der Abschlussnoten der zwölften Klasse in 17 iranischen Provinzen bei unter zehn von 20 möglichen Punkten. Lediglich die Provinz Yazd erreichte einen Schnitt von über 12 Punkten. Besonders schwach fiel das Ergebnis in Literatur und Geisteswissenschaften aus, wo der Durchschnitt bei nur 9,13 Punkten lag.
Unterfinanzierung auf politischer Ebene
Ein wesentlicher Grund für die Bildungskrise liegt in der mangelnden politischen Priorisierung. Laut dem Bericht des parlamentarischen Forschungszentrums betrug der Anteil des Bildungsbudgets am iranischen Staatshaushalt in den vergangenen Jahren durchschnittlich lediglich zehn Prozent. Dieser Wert erscheint auf den ersten Blick nicht dramatisch, liegt jedoch unter dem internationalen Durchschnitt von 14,5 Prozent und deutlich unter Werten von Ländern wie Indien (15,1 Prozent), der Mongolei (18 Prozent) oder Nigeria (14,1 Prozent). Für ein Land mit einer jungen Bevölkerung und einem hohen Bedarf an qualifiziertem Humankapital stellt diese geringe Investition ein gravierendes strukturelles Versäumnis dar.
Auch der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist mit weniger als 2,5 Prozent auffallend niedrig. Im weltweiten Vergleich liegt dieser Wert bei etwa 4,5 Prozent; in Brasilien bei 5,9 Prozent, in Südafrika bei 6,2 Prozent und in Ägypten bei 4,2 Prozent. Das bedeutet: Iran investiert selbst im Vergleich mit aufstrebenden oder strukturell schwächeren Volkswirtschaften einen deutlich geringeren Anteil seiner Wirtschaftsleistung in die Bildung. Diese Unterfinanzierung zeigt sich in allen Bereichen des Systems: bei der Modernisierung von Lehrplänen, bei der Rekrutierung und Weiterbildung qualifizierter Lehrkräfte, bei der digitalen Ausstattung von Schulen sowie der dringend notwendigen Verkleinerung überfüllter Klassen.
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