Die Qualität der Bildung in Schulen Irans sinkt alarmierend
Die TIMSS-Ergebnisse 2023 zeigen alarmierende Schwächen im iranischen Bildungssystem – ein Weckruf für notwendige Reformen? Ein Bericht von Radio Farda
Die Ergebnisse der in 58 Ländern unter Viertklässlern durchgeführten TIMSS-Tests (Trends in International Mathematics and Science Study) 2023 belegen, dass die Leistungen iranischer Schüler*innen in Naturwissenschaften „schwach“ und in Mathematik „unbefriedigend“ sind. Die Tests, die in 44 Ländern auch in den achten Klassen durchgeführt wurden, zeigen zudem, dass die Lernerfolge der iranischen Achtklässler in den genannten Fächern ebenfalls nicht befriedigend sind.
Diese Ergebnisse sind umso alarmierender, als bereits die Ergebnisse der vorangegangenen TIMSS-Studie von 2019 ebenfalls einen Rückgang der Bildungserfolge im Iran verzeichneten. Damit stellt der Leistungsabfall der iranischen Schüler*innen in den vergangenen Jahren eine anhaltende Tendenz dar.
Stufenweiser Rückgang in Mathematik und Naturwissenschaften
Die TIMSS-Studie ist eine internationale Bewertung des schulischen Fortschritts in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften, die alle vier Jahre weltweit in verschiedenen Ländern durchgeführt wird. Dabei werden die Leistung von Viert- und Achtklässlern bewertet. Die Ergebnisse der Studie bieten den Ländern die Möglichkeit, ihre Bildungssysteme mit denen anderer Länder zu vergleichen und dabei Faktoren wie die Qualität der Bildung, Bildungsressourcen, Lehrmethoden und deren Zusammenhang mit dem Fortschritt der Schüler:innen zu untersuchen.
Irans Status im Vergleich zur vorherigen TIMSS-Studie von 2019 hat sich dabei weiter verschlechtert. Damals belegten iranische Viertklässler in Mathematik mit einer Punktzahl von 443 den 50. Platz von 58 Ländern, in Naturwissenschaften mit 441 Punkten den 48. Platz. Die Leistungen der Schüler*innen wurden als “sehr schwach” bewertet. Die Achtklässler im Iran belegten unter 39 Ländern den 29. Platz.
Werden die Schüler*innen Jahr für Jahr weniger gebildet?
Afshaneh*, Mathematiklehrerin in der Sekundarstufe, zählt zu denjenigen, die sich besonders über die mangelnde Bildung der Schüler*innen nach der COVID-19-Pandemie beschweren. Laut ihrer Aussage haben einige Schüler*innen auf Gymnasialniveau Schwierigkeiten mit einfachen Rechenarten wie Addition und Subtraktion sowie mit Multiplikationen und Divisionen. Das Unterrichten von Mathematik sei für sie daher sehr herausfordernd. „In der Corona-Zeit war Onlineunterricht neu und sehr schwierig”, sagt die Lehrerin. “Abgesehen davon, dass die Prüfungen unter massiven Betrügereien stattfanden, gaben die Lehrer den Schüler*innen sehr nachsichtige Noten. Die Konsequenzen davon sehen wir jetzt.“
Sie gibt jedoch einen Teil der Schuld auch den Schüler*innen selbst und erklärt: „Die Kinder denken, Mathematik sei für sie nutzlos. Dabei ist Rechnen das Einfachste, mit dem sie im Alltag zu tun haben.“
Demotivierende Zustände
Die TIMSS-Studie im Bereich Mathematik umfasst Zahlen, Geometrie, Messungen, Daten und Wahrscheinlichkeit. Im Bereich Naturwissenschaften werden Biologie, Physik, Chemie und Geologie untersucht. Dabei werden das grundlegende Wissen, die Anwendung dieses Wissens in praktischen Situationen sowie die Fähigkeit zur Analyse und Lösung komplexer Probleme bewertet. Die Studie wurde erstmals 1995 durchgeführt. Ein Ziel der TIMSS-Studien ist es, den Zustand des Bildungssystems eines Landes aufzuzeigen, damit es bei Bedarf reformiert werden kann. Trotz des rückläufigen Ergebnistrends der iranischen Schüler*innen scheint das Bildungssystem des Landes jedoch keine Pläne für eine entsprechende Reform zu haben.
Mandana*, eine Schülerin der 10. Klasse, deren Noten nicht unter 19,5 von 20 Punkten liegen, sagt dennoch, dass sie nur aus Angst vor ihren Eltern lerne und ihre Freundinnen nicht verlieren wolle. Als Grund dafür, warum ihre Mitschülerinnen nicht lernten, nennt sie fehlende Motivation: „Alle denken, dass die, die gelernt haben, trotzdem nichts erreicht haben. Vielleicht ist das die Folge des schlechten Zustands der Gesellschaft, der alle demotiviert hat.“ Mandana ist außerdem kritisch gegenüber der Idee einer Vereinheitlichung der Schulen. Sie erklärt: „Schulen versuchen, alle gleich zu machen, und rauben den Schülern so ihre Kreativität.“ Schule sollte jedoch Gelegenheit zu Kreativität schaffen. Dies würde aber nicht geschehen.
Auch einfache Texte kann man nicht mehr lesen
Soziale Netzwerke sind nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern brachten auch einen neuen Stil der Literatur hervor. Zunächst wurden Wörter abgekürzt, und allmählich verbreiteten sich auch Rechtschreibfehler. Der Lehrer Aydin erklärt, er habe Schüler, die nicht nur nicht richtig lesen könnten, sondern auch die Bedeutung vieler einfacher Wörter nicht verstünden. Er meint, dass in den letzten Jahren das „Buchlesen“ durch „Lesen von Quatsch“ ersetzt worden sei: „Dieses Problem betrifft nicht nur Schüler*innen.
Die Lesegewohnheit ist dabei, zu verschwinden. Früher hieß es, Texte müssen ‚Twitter-like‘ – also sehr kurz – sein, damit sie gelesen werden. Heute sagt man sogar, dass auch das nicht mehr gelesen wird. Es muss in Form von Audio oder Video sein, und das auch in kürzester Zeit, vielleicht unter einer Minute oder 30 Sekunden.“ Aydin macht ebenfalls das Bildungssystem dafür verantwortlich, das es nicht geschafft habe, genug Attraktivität in den Inhalten und Formen zu schaffen, um mit den Schülern Schritt zu halten.
Ungebildet als Etikett
Im Laufe der Jahre wurden Antworten auf die Beschwerden über die Praxisferne von Unterrichtsstoffen und die Inhalte der Lehrbücher oft vage formuliert. Manchmal wird die Kritik auf Faulheit der Schüler*innen zurückgeführt, doch diese Antworten sind weder überzeugend noch lösen sie das Problem. Dennoch zeigen die TIMSS-Studien, dass das Problem über das bloße Vermeiden von Lernen hinausgeht.
Sobhan, ein Schüler der achten Klasse, erhält Noten zwischen 12 und 15 (von 20). Manchmal sind seine Noten sogar noch schlechter, seit Jahren hat er keine höheren Noten mehr erreicht. Er sagt: „Es stimmt, dass das Etikett der Unbildung jedes Jahr den Schüler*innen angeheftet wird, aber die Hauptschuldigen sind die Lehrer*innen und das Schulsystem. Vielleicht sind Mathematik, Literatur und Physik wichtige Fächer, aber die Art und Weise, wie sie unterrichtet werden, ist völlig falsch. Die Lehrbuchinhalte sind so gestaltet, dass sie die Schüler*innen vom Lesen abhalten und verwirren. Denkt daran, dass wir von keinem dieser Themen in der Zukunft Gebrauch machen werden.“
Diese Worte sind von vielen Schüler*innen immer wieder zu hören: „Wir können mit diesen Inhalten nichts anfangen.“ Doch Themen wie Allgemeinwissen oder sogar Literatur haben nichts mit den Gesetzen von Newton, den Physikformeln oder dem Le Chatelier-Prinzip in der Chemie zu tun. Also fragen Kritiker:innen, warum es auch in der Literatur keinen Fortschritt gibt und die Schüler*innen sogar zum Lesen einfacher Texte unfähig sind. Sobhan sagt: „Wir lesen nur das, was uns im Moment nützt. Wenn uns das Gedicht oder die Literatur nützlich wäre, würden wir das sehr flüssig lesen.“ Er zitiert ein Gedicht in koreanischer Sprache, und sagt: „Wir lernen auch Gedichte, aber nicht die, die ihr uns zwingen wollt, zu lernen.“
Reformbedürftiges System
Früher wurden Sätze wie „Der Lehrer erklärt nicht richtig“ oder „Die Fächer sind zu schwer“ als Ausreden für die Faulheit der Schüler*innen betrachtet, und man dachte, damit sollten die Lehrer*innen für ihr Versagen verantwortlich gemacht werden. Doch jetzt ist die Situation anders. Amir*, ein Schüler der siebten Klasse, erklärt: „Zum Glück haben unsere Eltern diese schweren und unnützen Fächer schon gelernt und akzeptieren leichter, dass Physik-Formeln uns nicht helfen, oder was es bedeutet, Mathematik zu hassen. Sie mussten das fehlerhafte Bildungssystem selbst durchmachen und haben die Ergebnisse gesehen. Deshalb zwingen sie uns nicht dazu.“
Mehrangiz*, eine Lehrerin und Bildungsexpertin, stimmt Amir zu. Sie sagt: „Das Bildungssystem war immer eines der schlechtesten Teile dieses Landes. Wenn dies vor 10 oder 20 Jahren nicht bekannt war, lag es daran, dass die Kinder unter dem Druck der Eltern oder mit der Motivation, an gute Universitäten zu kommen, lernten. Die Generation von damals, die unter dem Druck der Eltern stand, hat jetzt die Rolle der Eltern übernommen und ist nicht mehr bereit, den gleichen Druck auf ihre Kinder auszuüben. Stattdessen legen sie mehr Wert auf das Erlernen von Fähigkeiten. Das Ergebnis ist, dass die Schüler*innen bereits in der Grundschule unbefriedigend abschneiden.“
Generation ohne Druck
Sie sagt weiter, dass die Schüler*innen kein Interesse daran hätten, an die Universität zu gehen: „Früher gab es einen signifikanten Unterschied zwischen privaten und staatlichen Universitäten, aber jetzt sind beide in einer ähnlichen Lage und von der Qualität her unzureichend. Andererseits ist die wirtschaftliche und soziale Situation von Bachelor- und Master-Absolvent*innen und sogar Promovierten deutlich sichtbar – entweder sind sie arbeitslos oder in einer schlechten wirtschaftlichen Lage.“ Laut der Lehrerin und Bildungsexpertin haben das Internet und soziale Netzwerke eine neue Welt von Einkommensmöglichkeiten geschaffen: “Geld ist für die neue Generation ein sehr wichtiges Thema, und sie möchte es auf einfache Weise verdienen. Diese Netzwerke haben jedoch die Konzentration und Präzision der Schüler*innen beeinträchtigt und dazu geführt, dass sie sich nur noch für oberflächliche Themen interessieren.”
Mehrangiz sagt weiter, dass der einzige Grund, warum ein*e Schüler*in heute möglicherweise um gute Noten kämpft, darin bestehe, eine Zulassung von einer ausländischen Universität zu erhalten. In dem Maße, wie hochgebildete Menschen das Land verlassen hätten, plane die nächste Generation bereits in jungen Jahren ihre Emigration: “Dieses Land wird immer leerer.”
Bildungsexpert*innen sind der Meinung, dass die Ergebnisse der TIMSS-Studie ein Weckruf für das iranische Bildungssystem seien. Wenn keine grundlegenden Reformen vorgenommen würden, könnte dieser rückläufige Trend die Bildung und die soziale Zukunft der kommenden Generationen gefährden.
Quelle: Radio Farda
Übersetzung: Iran Journal
Fotos: Tasnim