Ermittlungen zu Vergiftungen von Schülerinnen im Iran beendet

Die Islamische Republik hat die Ermittlungen zu einer Serie von Vergiftungen Tausender iranischer Schülerinnen ad acta gelegt. Gerät damit ein im Iran beispielloses Verbrechen in Vergessenheit oder wird die Weltgemeinschaft auf eine lückenlose Aufklärung bestehen?

Von Mina Tehrani*

„Durch die Ermittlungen der zuständigen Behörden wurde deutlich, dass einige Menschen mit Vorsatz und böser Absicht unter Verwendung von Stinkbomben, die auf dem freiem Markt erhältlich sind, Schülerinnen vergiftet haben“: So lautet das Ergebnis der offiziellen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Serienvergiftungen an iranischen Mädchenschulen. Diese Angriffe hatten Ende November 2022 in der Pilgerstadt Qom begonnen und sich schnell auf andere Städte ausgeweitet. Erste hektische Reaktionen staatlicher Stellen hatten eine Welle der Empörung im In- und Ausland ausgelöst. Denn sie lauteten etwa: „Die Vergiftungen gehören zum Plan der Feinde zur Abschaffung der Islamischen Republik“, „ausländische Agenten sind am Werk“ oder „Kinder vergiften ihre Mitschülerinnen“. Zudem wiesen Sicherheitsbehörden inländische Medien an, anstelle von „Vergiftung“ den Begriff „Depression“ zu verwenden. Im März wurde dann der Journalist Ali Pour-Tabatabai verhaftet, der in Qom die Hintergründe der Vergiftungen recherchierte. Noch am selben Tag drohte der iranische Justizchef allen Journalist:innen, die abweichend von offiziellen Verlautbarungen über die Vergiftungsfälle berichteten.

Nach offiziellen Angaben erfasste die Serienvergiftung bis zur ersten Märzwoche bereits 25 Provinzen, 230 Schulen und mehr als 5.000 Schülerinnen. Die Serie dauerte bis Mitte April an. Eine genaue Zahl der Opfer wurde bisher nicht veröffentlicht.

Der Staat bleibt bei seiner Version

Im Bericht der staatlichen Untersuchungskommission werden offizielle Aussagen der Ministerien und staatlichen Medien wiederholt. „Unfug von Schülerinnen“ sei die Hauptursache der Vergiftungen gewesen, teilte Hamidreza Kazemi, Parlamentsabgeordneter und Mitglied der Untersuchungskommission, den Medien am 11. Juni mit. Demnach hätten Schülerinnen selbst absichtlich Stinkbomben gelegt – mit dem Ziel, dass die Schulen geschlossen werden.

Laut Kazemi seien Jugendliche „aus Abenteuerlust“ in die Serienvergiftung verwickelt gewesen. Außerdem habe sich im Verlauf der Ermittlungen herausgestellt, dass „auch andere Personen hinter den Kulissen an der Vergiftung der Schülerinnen beteiligt waren, die nach ihrer Identifizierung vom Sicherheitsapparat festgenommen wurden“. Ende März hatte das Innenministerium bekannt gegeben, dass 118 Personen im Zusammenhang mit der Vergiftung der Schülerinnen festgenommen worden seien. Die Identität der Inhaftierten und ihre Motive liegen immer noch im Unklaren.

Anfang April hatte Gesundheitsminister Bahram Eynollahi gesagt: „Der Zustand der Schülerinnen weist bei mehr als 90 Prozent keinerlei Vergiftungen auf. Auch wurde keine Spur von giftigen Substanzen gefunden.“ Die Einlieferung der Schülerinnen in Krankenhäuser sei nicht durch Vergiftungen, sondern hauptsächlich durch Symptome wie Angst und Stress verursacht worden. Um die Aussagen des Ministers zu unterstreichen, schrieb die der Revolutionsgarde nahestehende Nachrichtenagentur FARS, dass etwa 80 Prozent der Schülerinnen „gelogen“ und 20 Prozent sich nur eingebildet hätten, vergiftet worden zu sein.

Der Gesundheitsminister selbst hatte in der zweiten Märzwoche allerdings zugegeben, dass „ein sehr mildes Toxikum“ als Ursache für die Vergiftungen festgestellt worden sei. Sowohl die Mitglieder der Untersuchungskommission als auch ihre Gesprächspartner waren ausschließlich Abgeordnete und staatliche Behörden. Vertreter:innen der betroffenen Schulen sowie Angehörige der Vergiftungsopfer und ihre Anwälte waren ausgeschlossen.

Wer steckt dahinter?

Wer steckt dahinter? Diese Frage beschäftigte mehr als sechs Monate lang die iranische Gesellschaft. Nachdem die Verantwortlichen die Vergiftungen „ausländischen Feinden“ zugeschrieben hatten, wuchs der Verdacht, dass der Staat selber an den Angriffen auf die Schülerinnen beteiligt war. In den vergangenen 40 Jahren werden im Iran alle staatlichen und gesellschaftlichen Probleme, mit denen das islamische Regime nicht fertig wird, als „Machwerk der Feinde“ bezeichnet.

Schülerinnen gehörten seit September 2022 zu den Frontkämpferinnen der Frauenrevolution. Videos und Fotos demonstrierender Schülerinnen mit erhobenen Fäusten gehören zu den gewohnten Bildern in den Sozialen Netzwerken. In einer Diktatur mit 17 Geheimdiensten, die das öffentliche und private Leben der Bevölkerung völlig kontrollieren und mit modernsten chinesischen Spionagegeräten Teilnehmer:innen großer Demonstrationen in der Nacht ausfindig machen können, grenzt es an ein Wunder, dass die Verursacher der Vergiftungen in mehr als 25 Provinzen unerkannt bleiben konnten.

Was nun?

Wie es scheint, sind die Ermittlungen in den Vergiftungsfällen für das islamische Regime abgeschlossen. Opfer und Angehörige wollen sich damit jedoch nicht zufrieden geben. Derzeit spielen einige von ihnen mit dem Gedanken, die Angriffe juristisch aufarbeiten zu lassen. Sie haben sich entsprechend juristisch beraten lassen. Ob ihnen das gelingt oder ob sie oder ihre Anwält:innen vor dem ersten Schritt verhaftet und wegen „Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit“ oder „Verschwörung gegen das islamische System“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden, bleibt abzuwarten. Was aber klar ist: sollten sie aktiv werden, brauchen sie internationale Unterstützung. Dann ist die Weltgemeinschaft aufgefordert, die Vergiftung von Tausenden unschuldigen Schülerinnen nicht ohne Weiteres hinzunehmen.

Am 16. März verfasste das Europäische Parlament eine Resolution, die die Serienvergiftung iranischer Schülerinnen verurteilte. Vertreter:innen des Europäischen Parlaments wiesen auf die „systematische Diskriminierung“ von Frauen in der Islamischen Republik und auf deren „friedlichen“ Kampf hin: Die Vergiftungsserie sei „ein barbarischer Versuch, iranische Frauen und Mädchen zum Schweigen zu bringen“. Sie drückten ihre „tiefe Solidarität“ mit den Opfern aus und unterstützten den Wunsch der Mehrheit der iranischen Frauen nach Abschaffung der Zwangsverschleierung.

In der Resolution des Europaparlaments wird der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen aufgefordert, eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufklärung der Serienvergiftung in den iranischen Mädchenschulen zu gründen. Last but not least fordern die Parlamentarier*innen in Artikel sieben ihrer zehn Artikel umfassenden Resolution den Europarat auf, die iranische Revolutionsgarde in die Liste der terroristischen Organisationen der Europäischen Union aufzunehmen.

Es wäre wünschenswert, wenn die Unterzeichner:innen der Resolution des Europarlaments auch auf die lückenlose Aufklärung der Verbrechen gegen die iranischen Schülerinnen bestehen würden.♦

*Mina Tehrani ist das Pseudonym unserer Kollegin im Iran.

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