„Ich konnte im Iran keine Sekunde richtig leben“

Kiana Akhavan möchte nie mehr in den Iran zurück. Die 23-jährige Taekwondo-Sportlerin hat den Iran eine Woche vor Mahsa Aminis Festnahme und dem Beginn der landesweiten Proteste verlassen. Sie war mit 16 Jahren als jüngstes Mitglied in die iranische Nationalmannschaft aufgenommen worden und gewann 2017 die Silbermedaille bei den Asienmeisterschaften. Dort wurde sie von Sittenwächtern unter Druck gesetzt, weil sie dem männlichen Coach des gegnerischen Teams die Hand gegeben hatte. Bei der „Campus Rally for Iran“ Ende November an der Berliner Humboldt-Universität erzählte sie, warum sie ihre Karriere mit 20 Jahren aufgeben musste.

Nasrin Bassiri hat die Sportlerin für das Iran Journal interviewt.

Frau Akhavan, warum haben Sie den Iran verlassen?

Kiana Akhavan: Mein ganzes Leben lang wollte ich schon in einem anderen Land leben. Bereits als Kind habe ich angefangen, Fremdsprachen zu lernen, um dieses Ziel zu erreichen. Wäre ich im Iran geblieben, hätte ich keines meiner Ziele erreichen können.

Spielte der Kopftuchzwang für Sie eine Rolle? Als Kampfsportlerin war es sicher nicht einfach mit der vorgeschriebenen Ganzkörperbedeckung.

Das war mein primäres Problem beim Sport. Die Bekleidung beim Taekwondo ist ein eng sitzender Anzug. Wir tragen dazu Leggings, Handschuhe, eine Oberfuß- und eine Kopfbedeckung, die mit Gummis befestigt wird. Dazu müssen wir noch etwas darunter tragen, damit kein Halsausschnitt zu sehen ist. Obwohl bei Frauenwettkämpfen im Iran nur Frauen zuschauen dürfen, mussten wir die islamischen Kopftücher tragen! Wenn die Kopfbedeckung verrutsche, wurde der Wettkampf unterbrochen, damit wir sie zurechtrücken können. Die totale Bevormundung und die Kontrolle rund um die hat mir psychisch geschadet. Ich war nicht in der Stimmung, die ich für Wettkämpfe hätte haben sollen. Deshalb habe ich mich mit knapp 20 Jahren entschieden, die Nationalmannschaft zu verlassen und wieder zu Schule zu gehen. Aber es hat Monate gedauert, bis ich wieder derselbe Mensch wurde wie vorher.

Was waren das für Schäden?

Ich wurde schikaniert. Das hat mich verletzt und ich hatte das Gefühl, dass ich keinen Zoll mehr Druck ertragen kann. Am Ende meines 19. Lebensjahrs war ich an einen Punkt angekommen, an dem alles, was ich bis dahin getan hatte, alle meine Bemühungen, die mir dieses Leid beschert hatten,  absolut sinnlos erschien. Ich dachte: Nun reicht es. Ich hatte zu lange ausgeharrt, weil ich gerne in der Nationalmannschaft war. Aber auch anderen Mädchen fiel es nicht leicht, unter diesen Zwängen zu funktionieren.

Kiana Akhavan: Alle, die im Bereich Taekwondo etwas zu sagen hatten, waren geschlossen gegen mich
Kiana Akhavan: Alle, die im Bereich Taekwondo etwas zu sagen hatten, waren geschlossen gegen mich

Wer hat Sie schikaniert und warum?

Ich wog mit 16 Jahren 46 Kilo. Als ich größer wurde, brachte ich 49 Kilo auf die Waage. Mir wurde gesagt, ich müsse innerhalb einer bestimmten Zeit mein Gewicht wieder auf 46 Kilo reduzieren, da es bereits eine Sportlerin für die Gewichtsklasse mit 49 Kilo gebe. Meine Ernährung wurde streng kontrolliert. Es war eine harte Zeit. Sechs Monate lang habe ich keine richtige Mahlzeit zu mir genommen. So war ich weder geistig noch körperlich fit für die Asienmeisterschaft.

Was hat Sie konkret bewogen, das Nationalteam zu verlassen?

Ein Vorfall bei der Asienmeisterschaft in Ho-Chi-Minh-Stadt 2018. Wir hatten im Iran die Angewohnheit, nach dem Kampf dem Coach des gegnerischen Teams die Hand zu geben. Anderes wird als Unhöflichkeit bewertet. Bei den Asienmeisterschaften habe ich mit einer Südkoreanerin gekämpft und nur mit einem Punkt Unterschied verloren. Korea gilt als Wiege des Taekwondo. Schockiert und gedankenverloren ging ich zum Trainer der Gegenspielerin und gab ihm die Hand. Da kam wütend unser Sittenwächter angerannt und schrie mich an, ich hätte die islamischen Gesetze mit Füßen getreten, der Disziplinarausschuss werde mich wegen dieses Regelverstoßes suspendieren.

Was passierte dann?

Alle, die im Bereich Taekwondo etwas zu sagen hatten, waren geschlossen gegen mich. Bei einem Wettkampf war der Ex-Präsident des Verbandes als Beobachter in der Halle. Nachdem ich meine Medaille geholt hatte, machte ich ihm meine Aufwartung. Er erwiderte mir, ich würde so miserabel kämpfen, dass mir niemand zusehen wolle. Später wurden trotz meiner besseren Qualifikation Sportlerinnen mit niedrigeren Rängen für Wettkämpfe in Turkmenistan aufgestellt. Als meine Eltern sich bei der Föderation darüber beschwerten, wurde ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Der Ex-Judto-Weltmeister Said Molai hat auch Iran verlassen, weil er gegen seinen israelischen Gegner antreten durfte und sich unfrei fühlte
Der Ex-Judto-Weltmeister Said Molai hat auch den Iran verlassen, weil er gegen seinen israelischen Gegner nicht antreten durfte und sich unfrei fühlte

Warum wurden ausgerechnet Sie benachteiligt?

Ich habe von einigen Personen gehört, dass manche dem Trainer unter dem Tisch Geschenke reichen, Geld, Gold. Andere erzählen, dass sie aufgefordert wurden, über die Ereignisse im nationalen Taekwondo-Camp zu berichten oder Trainer anzuschwärzen. Ich habe so etwas nie im Leben gemacht, vielleicht liegt es daran, dass ich in meiner Familie gewisse Werte vermittelt bekommen habe. Ich habe über niemanden schlecht gesprochen, nie über jemanden Bericht erstattet und niemandem Geschenke gemacht für eine Gegenleistung. So war ich auf mich gestellt; ich hatte keine Verbündeten, die mich unterstützt haben.

Denken Sie, dass solche Seilschaften und Korruption der allgemeinen Situation geschuldet sind?

Gewiss spielt das eine Rolle, die soziale Struktur und das Wertesystem sind maßgebend. Wenn in einer Gesellschaft alles gerecht gestaltet und verteilt wird, wenn Posten aufgrund von Qualifikation, Kenntnissen und Erfahrungen verteilt werden, werden Korruption und Unterschlagung nicht Schule machen. Werden Posten mit anständigen Menschen besetzt, werden Beamte und kleine Angestellte keine Bestechungsgelder für ihre Dienste verlangen. Im Iran ist es gang und gäbe, dass man bei der kleinsten Dienstleistung in einer Behörde schon im Vorfeld versichern muss: ‚Ihr Geschenk wird nicht vergessen werden.‘

Wollen Sie in Deutschland bleiben?

Ja, mein Asyl ist so gut wie geklärt. Ich bin sehr zufrieden in Deutschland, hier behandelt man mich respektvoll und freundlich. Ich lebe zurzeit nicht wie andere Flüchtlinge in einem Wohnheim, sondern bei meinem Onkel. Ich habe Sehnsucht nach meinen Liebsten, meiner Familie, aber alle sind hier sehr nett zu mir und ich bekomme so viel positive Energie. Seit ich hier bin, empfinde ich kein Heimweh. Ich spreche beinahe drei Fremdsprachen und habe keine Probleme, mich zu integrieren. Wegen all dem, was ich im Iran erlebt habe und ertragen musste, möchte ich nie dorthin zurückkehren, auch dann nicht, wenn die heutigen Machthaber nicht mehr an der Macht sein werden. Der Iran erinnert mich nur daran, dass ich dort keine Sekunde richtig leben konnte. ♦

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