Aufklärung durch eine zur Tradition gewordene Gedenkveranstaltung

Ich habe die Menschen zur Teilnahme an der Gedenkveranstaltung im Haus meiner Eltern am Nachmittag des 22. Novembers eingeladen.

Wie viel Leute nahmen daran teil?

Hunderte. Von namhaften Menschenrechtsaktivist:innen wie Nasrin Sotoudeh oder Keyvan Samimi, die vor ein paar Monaten aus der Haft entlassen worden sind, bis hin zu politischen Weggefährt:innen meiner Eltern und Angehörigen der getöteten Oppositionellen und Protestierenden der letzten 44 Jahre.

Aber auch viele junge Menschen. Ich finde es besonders schön, dass in den letzten Jahren viele der Teilnehmer:innen so jung sind, dass ich denke, sie waren noch nicht geboren, als meine Eltern ermordet wurden. Es findet ein Moment der Solidarität unter verschiedenen Menschen statt, die die mörderische Gewalt und die Grausamkeit des Regimes hautnah erlebt haben. Ich habe den Eindruck, dass viele Leute auf diesen Tag warten, ob sie an der Veranstaltung teilnehmen oder nicht. Die Einladung wird in den sozialen Netzwerken vielfach geteilt und auch manche persischsprachige Sender und andere Medien der Exil-Iraner:innen verbreiten sie.

Wie war die Reaktion der Polizei am Gedenktag?

An diesem Tag waren viele sogenannte Sicherheitsbeamte auf der Straße und vor dem Haus meiner Eltern. Sie haben die Menschen, die zur Veranstaltung kamen, mit riesigen Objektiven fotografiert. Damit erzeugen sie eine Situation der Unsicherheit und Angst.

Parastou Forouhar (li.) und Nasrin Sotoudeh bei der Gedenkveranstaltung für Parvaneh und Dariush Forouhar am 22. November 2023
Parastou Forouhar (li.) und Nasrin Sotoudeh bei der Gedenkveranstaltung für Parvaneh und Dariush Forouhar am 22. November 2023

Droht den Teilnehmer:innen die Gefahr, verhaftet oder auf andere Weisen schikaniert zu werden?

Ja. Viele von ihnen waren schon wegen freier Meinungsäußerung oder politischer oder sozialer Aktivitäten angeklagt und auch inhaftiert. Gegen manche von ihnen, zum Beispiel einige Mitglieder des Schriftstellerverbandes, die letztes Jahr verhaftet und vorläufig freigelassen wurden, laufen noch Gerichtsverfahren. Die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen kann deren Verlauf zu ihrem Nachteil beeinflussen.

Letztes Jahr hattest Du einen Baum, den Deine Mutter angepflanzt hatte, mit Parolen der landesweiten Proteste geschmückt. Gab es auch dieses Jahr eine besondere Aktion?

Dieses Jahr haben wir den Baum wieder mit Zetteln, auf denen ähnliche Slogans standen, geschmückt; unter anderem „Jin, Jian, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit), oder „Wir verlangen die Aufklärung der politischen Morde“. Viele haben sich unter diesem Baum fotografieren lassen. Es ist so eine Art Veranschaulichung der Solidarität, die eine gewisse Kraft ausstrahlt.

Wurden dabei auch Parolen gerufen?

Ja, unter anderem „Frau, Leben, Freiheit“, die Hauptparole der Revolte im letzten Jahr.

"Baum der Hoffnung" mit Slogans für Gerechtigkeit und Demokratie im Iran - im Haus des ermordeten Politikerehepaars Parvaneh und Dariush Forouhar in Teheran
„Baum der Hoffnung“ mit Slogans für Gerechtigkeit und Demokratie im Iran – im Haus des ermordeten Politikerehepaars Parvaneh und Dariush Forouhar in Teheran

Sind die Folgen der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung noch zu spüren?

Ja, sicher. Ich war sehr begeistert zu sehen, dass die Anzahl der Frauen, besonders junger Frauen, die unverschleiert im öffentlichen Raum erscheinen, noch größer geworden ist als bei meinem letzten Besuch im Iran im November 2022. Die Bewegung an sich zeigt nach außen hin vielleicht keine erkennbaren Zeichen, aber es gibt unzählige Einzelproteste. Jede Frau, die unverschleiert auf die Straße geht, protestiert im Sinne dieser Bewegung. Und sie werden vom Großteil der Gesellschaft unterstützt. Sehr oft sieht man Männer in Begleitung dieser Frauen. Das ist eine Veränderung, die man visuell wahrnimmt. Bei Gesprächen in den Sammeltaxen oder mit Verkäufer:innen oder eigenen Bekannten merkte ich, dass die Kluft zwischen dem Machtapparat und der Bevölkerung enorm größer geworden ist. Beachtliche Teile der Gesellschaft hegen eine Verachtung gegen den Machtapparat, die sehr spürbar ist.

Sind Dir andere Veränderungen gegenüber dem letzten Jahr aufgefallen?

Sehr auffällig ist die um sich greifende Armut, auch bei der Mittelschicht. Die Preissteigerung ist schwindelerregend, die Gehälter reichen in der Regel nicht einmal für eine geeignete Wohnung.

Du hast mit Aktivist:innen bestimmt auch über die Zukunft des Landes gesprochen. Gibt es Alternativen zum jetzigen Regime, die einen freiheitlich-demokratischen Iran gestalten könnten?

Dass es nicht so nicht weiter gehen kann, dass es zu einer Explosion kommen kann, das habe ich immer wieder gehört. Aber wie der Machtwechsel organisiert werden könnte, da gibt es allem Anschein nach noch keine Konzepte oder Alternativen. Derzeit herrschen Wut und Ratlosigkeit. Die staatliche Gewalt gegen jede Art von Organisation, die nicht im Sinne des Regimes agiert, ist enorm. Sobald es die Anzeichen für die Bildung eines derartigen Netzwerkes gibt, geht das Regime mit aller Brutalität dagegen vor. Dennoch gibt es Gruppierungen, die miteinander im Dialog stehen, zum Beispiel die Studierendenvereine oder die verbotenen Gewerkschaften, die sich treffen und ihre Aktionen koordinieren, aber auch Frauen und Menschenrechtsaktivist:innen, die sich in kleineren Gruppen organisiert haben. Sie versuchen, ihre Netzwerke zu schützen und aufrechtzuerhalten. Aber ob sie sich irgendwann zusammenschließen können, um Protestbewegungen wie die in den vergangenen Jahren zu initiieren, ist schwer vorauszusehen.

Hast Du bei Deinen Gesprächen heraushören können, ob die Aktivist:innen im Iran Unterstützung von den demokratischen europäischen Staaten erwarten?

Was ich erfahren habe, ist eine gewisse Desillusionierung, eine hörbare Enttäuschung. Die Menschen dort haben, so scheint es mir, die Hoffnung aufgegeben, von den Regierungen oder Politiker:innen der demokratischen Staaten aktive Unterstützung zu erhalten. Der Tenor ist allerdings, dass jede grundlegende Veränderung von der iranischen Gesellschaft ausgehen soll. Direkte Einmischungen aus dem Ausland, besonders militärische, wird rigoros abgelehnt.

Du versuchst seit 25 Jahren, die politischen Morde an deinen Eltern mit den vorhandenen Rechtsmitteln aufzuklären. Wie weit bist Du damit gekommen?

Gar nicht. Alle rechtlichen Schritte innerhalb des Irans sind im Sand verlaufen. Es gab Show-Prozesse, bei denen letztendlich nur die Handlanger vor Gericht gestellt wurden; die Drahtzieher sowie die Struktur oder die Ideologie hinter den Morden wurden nicht einmal benannt. Wir haben auch versucht, auf internationaler Ebene, zum Beispiel bei der damaligen Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, für die Aufklärung der Morde zu kämpfen. Wir haben einen Antrag auf die Untersuchung des Falls gestellt. Sie konnten ihn aber nicht begutachten und haben sich auch nicht dazu geäußert. Denn dafür wäre die Zusammenarbeit mit der Islamischen Republik nötig. Das Regime hätte sich bereit erklärten müssen, ihre Fragen zu beantworten. Das hat die iranische Justiz jedoch rigoros abgelehnt. Das heißt, alle juristischen Versuche sind gescheitert. Aber Aufklärung ist meiner Meinung nach nicht nur eine juristische Angelegenheit. Die Erinnerung daran lebendig zu halten, ist ein politisch-gesellschaftlicher Prozess, der sich fortsetzen kann. Nicht nur, um irgendwann die Verantwortlichen für die politischen Morde zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch, um politische Verbrechen zu stoppen. Solche gesellschaftlichen Prozesse sorgen einerseits für Aufklärung, sie tragen aber auch zur Demokratisierung der Gesellschaft bei.♦

Interview: Farhad Payar 

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