Das Land brodelt

Nach meiner Flucht nach Berlin arbeitete ich ab Mitte der Achtziger Jahre einige Jahre als Beraterin iranischer Flüchtlinge. Eine junge Frau erzählte mir, dass sie wegen Schminke und Nagellack von den Sittenwächtern festgenommen und zusammen mit anderen in eine Wache oder ein Gefängnis außerhalb der Stadt gebracht worden war. Dort sollte sie eine Art weite kurdische Hose anziehen, die am Knöchel eng, an der Hüfte weit war. Dann wurde ihr die Augen verbunden und sie wurde ausgepeitscht. Sie hörte ein Kätzchen miauen, ihr wurde etwas in die Hose geschoben und sie wurde weiter mit der Peitsche geschlagen. Ihre Beine wurden verletzt, weil die Katze in ihrer Hose sie in Panik verletzt hatte.

Später galt eine Zeitlang das Auto als privater Raum, viele Frauen legten das Kopftuch während der Fahrt oder bei der Reise ab. Heute kann der*die Besitzer*in oder Fahrer*in des Fahrzeugs für ein solches Verhalten verantwortlich gemacht werden. Durch das Kennzeichen wird er oder sie identifiziert und erhält eine SMS, dass eine unverschleierte Frau in seinem Auto sitzt. Das Gleiche geschieht bei Fahrten mit dem Taxi oder Uber. So wurden die Taxi- und Uber-Fahrer zu Hilfspolizisten der Sittenwächter.

Seit 44 Jahren liegt die Propagandamaschinerie, das staatliche Radio und Fernsehen fest in den Händen der ultrakonservativen Machthaber um Ayatollah Chamenei. Auch das gesetzgebende Organ, das islamische Parlament, ist nur pro forma unabhängig. Die Vorauswahl, wer als Kandidat aufgestellt werden darf und wer nicht, treffen Chameneis Männer. Der Wächterrat, der offiziell darüber entscheidet, wird zur Hälfte direkt von Chamenei und zur anderen Hälfte vom Justizchef ernannt, der wiederum von Chamenei ernannt wird. Er allein trifft alle Entscheidungen, hat 100 Prozent der Macht und Entscheidungskraft und null Prozent Verantwortung. Sein Lieblingswort, das er bei jeder Rede verwendet, ist Doshman – der Feind.

In Parlament sitzt kein einziger Abweichler, denn die Kandidaten sind im Vorfeld durch das Sieb des Wächterrats gelaufen. Früher sortierte es nur Marxisten und extreme Abweichler aus, aber ab der 7. Wahlperiode, seit Juni 2018, wurden mehr als die Hälfte alle Kandidaten*innen aussortiert, sogar 50% der Kandidat*innen, die bereits in der sechsten Wahlperiode von der Bevölkerung ins Parlament gewählt worden waren. Zum ersten Mal wurden aber im Sommer 2020 gar keine Reformkräfte zur Wahl zugelassen – nur Ultra-Hardliner und wenige „unabhängige“ Kandidat*innen.

Schülerinnen zeigen, was sie von den beiden Führern der islamischen Revolution halten
Schülerinnen zeigen, was sie von den beiden Führern der islamischen Revolution halten

Proteste seit beinahe sieben Monaten

Proteste und Demonstrationen mit Toten und Verletzten hat es in der Islamischen Republik häufig gegeben. Meist waren es junge Männer und Familienangehörige, die gegen Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit demonstrierten. Sie dauerten einige Tagen, auch mal länger, und geschahen in Intervallen von drei oder vier Jahren. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini sind die Proteste aber nicht abgebrochen. Offensichtlich gibt es zwischen der Obrigkeit und der Bevölkerung eine unüberwindbare Diskrepanz. Die Frauen wünschen sich eine gleichberechtigte Lebensform. Die Männer sind ihre größten Verbündeten und Unterstützer. Männer und Frauen gemeinsam haben sich fest vorgenommen, nicht zurückzuweichen.

Es sind nicht nur Oppositionelle und Abweichler, die neue Visionen haben. Wie eine öffentlich bekannt gewordene Diskussion zwischen Kommandanten des Militärs und der Revolutionsgarde mit Chamenei zeigt, hält auch die Garde eine Weiterführung des alten Kurses nicht mehr für tragbar. Doch Staatspräsident Raissi stellt sich taub und behauptete erneut: „Der Hijab ist eine religiöse Notwendigkeit und eine gesetzliche Anforderung, auf die sich die Mitglieder der iranischen Gesellschaft geeinigt haben.“

Chamenei, der früher Frauen wegen ihrer Haltung zur islamischen Kleiderordnung hart kritisiert und sie als „Handlanger der Feinde der islamischen Ordnung“ bezeichnet hat, nannte sie nach dem Gespräch mit Militär und Sepah „unsere Töchter“. Er spricht nun von Frauen, die eigentlich gläubig und gutmütig sind, und veröffentlicht Bilder von nicht sonderlich streng gekleideten Frauen, die geschminkt sind, auf seiner offiziellen Webseite.

Währenddessen waren zum iranischen Neujahr, das am 20. März begann, zahlreiche junge Frauen im ganzen Iran zu sehen, die unverschleiert zusammen mit Männern auf den Straßen vieler Städte tanzten. Das Land brodelt, das Straßenbild mit tanzenden und singenden jungen Menschen zeigt, dass der strenge Machthaber offensichtlich nicht mehr fest im Sattel sitzt. Der Ultra-Hardliner Hossein Shariatmadari stieß einen Wutschrei aus: Die Regierung, der Innenminister sollten härter zupacken. Er wurde am nächsten Tag zurückgepfiffen und entschuldigte sich beim Innenminister.♦

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