„Es war nicht leicht, sich mit so viel Leid zu beschäftigen“

Interview mit der Regisseurin Steffi Niederzoll zu ihrem Dokumentarfilm „Sieben Winter in Teheran“, der einen Justizskandal im Iran dokumentiert. Der Film sorgte auf der Berlinale für erhöhte Aufmerksamkeit. 

Von Nasrin Bassiri

Die 19-jährige Reyhaneh Jabari, IT-Studentin und im Nebenjob Innenarchitektin, wird von einem Arzt unter dem Vorwand in seine Wohnung gelockt, er wolle dort eine Praxis für Schönheitschirurgie einrichten. Als der Mann versucht, sie zu vergewaltigen, verletzt sie ihn in Notwehr mit einem Messer. Der Schönheitschirurg und Geheimdienstagent stirbt. Sieben Jahre später soll Reyhaneh hingerichtet werden. Nach islamischem Strafrecht darf der Sohn des Opfers über ihren Tod entscheiden. Dieser erklärt, wenn Reyhaneh die Beschuldigung zurücknehme, dass der Vater sie zu vergewaltigen versucht habe, werde sie freigelassen. Ihre Mutter fleht Reyhaneh an, auf den Vorschlag einzugehen. Diese erwidert: „Du hast uns von Nietzsche erzählt, der sagte, es lohne sich, für seine Werte zu kämpfen, auch wenn man dabei das Leben verliert. Manchmal scheint der Tod erträglicher, als gedemütigt zu leben.“

In ihrem Dokumentarfilm „Sieben Winter in Teheran“ schildert die Filmemacherin Steffi Niederzoll mit heimlich gedrehtem Videomaterial die Situation der Frauen im Iran und rollt den berührenden Fall neu auf.

Für die Freilassung von Reyhaneh Jabari setzten sich viele nationale und internationale Organisationen und Persönlichkeiten ein - vergeblich!
Für die Freilassung von Reyhaneh Jabari setzten sich viele nationale und internationale Organisationen und Persönlichkeiten ein – vergeblich!

Iran Journal: Frau Niederzoll, wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film zu diesem Thema zu drehen?

Steffi Niederzoll: Ein Freund aus dem Iran hatte einen Künstleraufenthalt in Istanbul. Durch ihn habe ich einen Verwandten von Reyhanehs Familie kennengelernt. Er brachte Filmmaterial von Reyhanehs Mutter Shole Pakravan mit und suchte jemanden, der daraus einen Dokumentarfilm drehen könnte. Zwar fehlt es im Iran nicht an Filmemachern. Aber entweder hatte die Mutter keinen Kontakt zu ihnen, oder die, die gefragt wurden, hatten Angst, denn der Vergewaltiger war ja ein Geheimdienstmitarbeiter. Zudem stellt der Film die Todesstrafe in Frage. Vermutlich haben sie mich gefragt, weil ich eine Zeitlang die Lebensgefährtin eines Iraners war.

Woher hatten Sie den Mut, sich trotz der Gefahren für das Projekt zu entscheiden?

Ich wusste, dass es eine große Verantwortung ist, mich dafür zu entscheiden, und ich war mir nicht sicher, ob das mir gelingen würde, weil ich keine Dokumentarfilmemacherin war. Es war zunächst nichts, was ich gerne machen wollte… Also sagte ich, dass ich das Filmmaterial mitnehmen und übersetzen lassen würde. Erst dann könne ich sagen, ob ich, Steffi aus Deutschland, etwas daraus machen könnte. Ich kannte aber bereits Medienberichte aus der Zeit vor Reyhanehs Hinrichtung im Jahr 2014, und wusste, dass mich das Thema berührte. So ich bin hingefahren, um das Material zu kopieren.

Steffi Niederzoll bei der Premiere ihres Filmes auf der Berlinale
Steffi Niederzoll bei der Premiere ihres Filmes auf der Berlinale

In den Iran?

Nein, ich bin nie im Iran gewesen. Ich bin Anfang 2017 zu Verwandten der Familie in Istanbul gefahren. Es gab zahlreiche Aufnahmen, deshalb bin ich lange geblieben. Dort bin ich zum ersten Mal Shole begegnet, Reyhanehs Mutter. Der Gastgeber kündigte an, dass sie käme, und ich habe aus dem Fenster geschaut, wo sich eine Frau mit blauem Schal näherte. Das war ein magischer und sonderbarer Moment. Ich war ja in die wichtigsten Erlebnisse ihres Lebens involviert, aber ihr selbst noch nie begegnet. Ich wollte sie umarmen und merkte dann: Sie kennt mich ja noch gar nicht! Als ich ihr das sagte, musste sie lachen. Das war der Eisbrecher. Ab diesem Moment musste ich nicht mehr nachdenken: Ich wusste, dass ich diesen Film machen muss.

Wie ging es dann weiter?

Mir war klar, dass das Material, das von der Familie gedreht worden war, das Herzstück des Films bilden muss. Der Rest waren Aufnahmen, überwiegend Interviews mit Shole, die ich mit einem kleinen Team gedreht habe. Dazu kamen Aufnahmen aus dem Gefängnis, die heimlich von Angehörigen gemacht worden waren, denen es gelungen war, beim Besuch ein Mobiltelefon mit hinein zu nehmen.

Shole Pakravan wird bei der Premiere des Filmes "Sieben Winter in Teheran" auf der Berlinale herzlich empfangen
Shole Pakravan wird bei der Premiere des Filmes „Sieben Winter in Teheran“ auf der Berlinale herzlich empfangen

Was hat der Film mit Ihnen gemacht?

Ich habe ein Land kennengelernt, das ich nie betreten habe, habe viel gelernt von Reyhaneh, ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern, über Mitgefangene und das, was sich im Gefängnis ereignet hat. Ich habe die Frauen im Iran besser kennengelernt, sie sind wahnsinnig stark; einerseits die Ruhe selbst und andererseits sie haben große Kraft, um für ihre Sache zu kämpfen, kontinuierlich, ohne nachzugeben. Ich wusste davor nicht, wie lange sie schon für Feminismus im Iran gekämpft haben, es sind so viele Jahre. Ich weiß nun, was es heißt, in einer Demokratie zu leben, und was ich hier alles darf. Ich denke, ich habe mich verändert, bin demütiger geworden.

Was denken Sie über Jalal Sarbandi, den Sohn des getöteten Arztes?

Ich finde es unglaublich grausam, dass der Staat die Todesstrafe verhängt, aber diese Last dann auf eine Familie überträgt. Du sollst entscheiden, ob jemand stirbt. Er hatte seinen Vater verloren – egal, was man von Sarbandi hält: Er ist ein Mensch. Ich finde es gut, wie Shole sich entschieden hat: nicht in der Dualität zu gehen – schlecht, gut, Täter, Opfer. Sie sagte: Lasst uns nicht weiter am Rad der Gewalt drehen. Natürlich wollte sie nicht, dass Reyhaneh hingerichtet wird. Aber als Jalal, der über Reyhanehs Leben oder Tod entscheiden darf, zu ihr sagt, ich möchte, dass ich nun dein Sohn werde – das kann ich nicht verstehen. Doch ich kann verstehen, wenn Reyhaneh sagt: Ich habe der Familie vergeben, bitte vergib ihnen auch. Shole hat das versucht, aber es fällt ihr schwer.

Ist mit diesem Film Ihre Beziehung zum Iran beendet?

Nein! Es gibt noch die Idee für ein Buch .. wir werden sehen. Aber erst mal muss ich eine Pause machen. Es war nicht leicht, sich mit soviel Leid zu beschäftigen.♦

„Sieben Winter in Teheran“ wird zum letzten Mal im Rahmen der Berlinale am 25.02 um 19:00 im Berliner Kino International gezeigt.

Regie: Steffi Niederzoll, Deutschland/Frankreich 2022.