Vor dem Ausbruch eines gewaltigen Erdbebens
Die neuerlichen Unruhen seien Vorzeichen eines großen gesellschaftlichen Erdbebens im Iran, meint der in Washington lebende Soziologe Hossein Ghazian. Je später es zu dem Beben komme, umso gewaltiger werde die freigesetzte Energie sein.
Wie kann man die jüngsten Unruhen im Iran benennen? Rebellion? Aufstand? Bewegung? Oder, wie einige Experten im Iran sagen, ein von den sozialen Netzwerken hochgeschaukelter Krawall? Waren sie bloß planlose Proteste der Armen oder doch Forderungen aus der Mitte der Gesellschaft? Und: Werden die Unruhen die iranische Gesellschaft nachhaltig verändern?
Um Antworten auf diese Fragen hat die persische Redaktion der Deutsche Welle den in Washington lebenden Soziologen und Iran-Experten Hossein Ghazian gebeten.
Iran Journal veröffentlicht Auszüge des Interviews.
Herr Ghazian, wie kann man die jüngsten Unruhen im Iran aus soziologischer Sicht beschreiben? Waren sie eine gesellschaftliche Bewegung? Ein Aufstand aus Wut, Hass oder Ressentiment?
Hossein Ghazian: Man kann sie als ein kollektives Verhalten bezeichnen, eines ohne Organisation oder Führung und ohne bestimmte Regeln – eine Art Protestbewegung. Solche Protestbewegungen können, wie wir in den letzten Wochen gesehen haben, in Krawall oder Gewalt umschlagen.
Warum war die Mittelschicht abwesend? Ist das ein Zeichen von Ausweglosigkeit oder von Angst?
Ich muss Ihnen widersprechen. Die Teilnehmer der Proteste kamen durchaus aus der Mittelschicht, jedoch von deren unterem Rand: nämlich aus den Gruppen, für die wirtschaftliche Forderungen im Vordergrund stehen. Allerdings haben wir bislang keine zuverlässige Untersuchung der Proteste. Wenn wir aber von 800.000 Familien im Iran ausgehen, die laut offiziellen Angaben schwerster Armut ausgesetzt sind, also ihr tägliches Brot kaum verdienen können, müssen wir auch festhalten, dass diese sich weder Smartphones noch einen Internetanschluss leisten können. Dementsprechend sind sie in den sozialen Netzwerken nicht so aktiv. Bei den Unruhen jedoch gingen Bilder und Filme zeitnah online. Die Armen können grundsätzlich nicht aktive Initiatoren solcher Protestbewegungen sein. Ihnen fehlen einfach die Mittel. Sie reagieren normalerweise dann, wenn sie sich direkt bedroht fühlen, wenn etwa Straßenverkäufer vom Ordnungsamt angegriffen werden. Zudem fanden die Proteste in den Städten statt, nicht in den ärmeren Vierteln an deren Rändern. Nichtsdestotrotz kann man die Beteiligung der Unterschicht an den Protesten nicht ausschließen.
Wie interpretieren Sie die landesweite Ausbreitung der Unruhen, die ja als einmalig seit der Islamischen Revolution 1979 beschrieben wird?
Die Proteste waren zwar geografisch sehr ausgebreitet, die Anzahl der Teilnehmer aber überschaubar. Meiner Meinung nach haben die Kommunikationswege stark zu der geografischen Ausbreitung beigetragen. Nachrichten über die Proteste wurden durch Messaging-Dienste, insbesondere Telegram, sehr schnell transportiert. Die Menschen sahen die Bilder, die sie selber aufgenommen und in den sozialen Netzwerken gepostet haben, kurz danach in den Satellitensendern. Dies gibt ihnen nicht nur mehr Mut und Selbstbewusstsein, sondern lässt die Protestbewegung sich in andere Städte ausweiten. Zeitgleich besteht durch solche Medien die Gefahr, dass die Ereignisse, insbesondere für entfernte Beobachter, größer und ausgedehnter erscheinen, als sie in der Realität sind. So ein Eindruck entstand bei den Unruhen im Jahr 2009 und auch diesmal, zumindest in den ersten Tagen der Proteste.
Die Unruhen wurden auch als „Bewegung für Arbeit, Brot und Freiheit“ bezeichnet, also als eine Bewegung mit wirtschaftlichen und politischen Forderungen. Trifft das zu?
Diese spezielle Beschreibung hat ihre Wurzeln in der Tradition der Linken. Vielleicht wollten manche linken Gruppierungen damit die Unruhen für sich reklamieren. Entsprechende Parolen wurden, soweit ich weiß, zuerst an der Teheraner Universität gerufen, fanden aber im Vergleich zu anderen Parolen keine breite Resonanz. Allerdings standen bei den Parolen überall die politischen Hintergründe der wirtschaftlichen Engpässe im Vordergrund. Außen- und Innenpolitik des Regimes wurden kritisiert und für die wirtschaftliche Schieflage mit verantwortlich gemacht.
Kann man sagen, dass die iranische Gesellschaft nach den jüngsten Unruhen eine andere geworden ist?
Meines Erachtens haben die Proteste nicht nur die Menschen und die politischen Kräfte, sondern auch das Regime zum Nachdenken gebracht. Zuvor gab es bereits kleinere erfolglose Proteste von entlassenen Arbeitern oder Anlegern, die ihre Ersparnisse durch Spekulationen der Kreditinstitute verloren haben; es fanden auch kleinere Demonstrationen wegen nicht bezahlter Löhne statt. Bei den jüngsten Protesten kamen andere Forderungen hinzu. Viele Protestierende sind selber vielleicht keine Arbeiter, Rentner oder Anleger, aber sie sind frustriert. Vor allem sehen sie die Gründe der Misere nicht mehr bei den Banken, Arbeitgebern oder einzelnen Ministerien, sondern im gesamten politischen System. Wie die sogenannte Grüne Bewegung von 2009 werden auch die jüngsten Unruhen ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Ich vermute, dass zukünftige Protestbewegungen noch radikaler und auf mehr Krawall aus sein werden. In der iranischen Gesellschaft ist der Wunsch nach Veränderungen groß, er ähnelt einem Erdbeben kurz vor dem Ausbruch. Je später es zu diesem Beben kommt, umso gewaltiger wird die freigesetzte Energie sein. Die Unruhen waren Warnsignale für das große Beben, dessen Dimension niemand einschätzen kann.♦
Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von IMAN ASLANI
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