Von der Bedeutung des iranisch-türkischen Flirts
Es dürfte dem Iran weit leichter fallen, den Muslimbrüdern und ihrem Umfeld entgegenzukommen als umgekehrt die Muslimbrüder den schiitischen Iranern. Aber auch hier deutet sich eine Neuausrichtung an: Wichtige Vertreter der Muslimbrüder und ihrer Think Tanks in Qatar tasten sich heran, die Rollen der schiitischen Tradition in der islamischen Geschichte neu zu bewerten. Auch erinnern sich manche daran, dass auch in der schiitischen Tradition ein Trend existierte, der ein ähnliches Anliegen verfolgte wie die Muslimbrüder; dazu gehörte vor allem die machtvolle Daʿwa-Partei im Irak.
Noch aber passt nicht alles zusammen. Die iranischen Revolutionsgarden feiern zurzeit einmal mehr die sogenannte Widerstandsallianz, also das transnationale Bündnis schiitischer Gemeinschaften, die dem iranischen Revolutionsführer Khamenei die Treue geschworen haben. Hier hat die türkische Politik der Förderung des nationalkonservativen Islamismus der Muslimbrüder keinen Platz.
Dualität
Möglicherweise aber werden beide Optionen nebeneinander fortbestehen. Zum einen die beiden Allianzen, die sich diskursiv und machtpolitisch deutlich unterscheiden, und zum anderen eine jenseits der Allianzen stehende Interessensgemeinschaft, die ein Bündnis gegen den neuen saudischen Block bildet.
Wie auch immer die Sache ausgehen wird, der Präsident des syrischen Regimes in Damaskus wird der lachende Dritte sein. Zum einen kann er sich freuen, dass die EU und die Vereinten Nation am 30. Juni 2020 auf der vierten Brüsseler Konferenz „Supporting the future of Syria and the region“ bekräftigt haben, „Hilfen für die Syrer innerhalb des Landes und in den Nachbarländern zu mobilisieren, auch für die aufnehmenden Gemeinschaften, durch Zusagen in Höhe von insgesamt 5,5 Milliarden US-Dollar für 2020 und mehrjährige Zusagen in Höhe von fast 2,2 Milliarden US-Dollar für 2021 und darüber hinaus“. Al-Asad wird dies sicherlich dahingehend deuten, dass nun der Druck auf die syrische Finanzpolitik abnimmt. Zum anderen wird sich das Regime in Damaskus die Bereitwilligkeit, an einer Gesamtlösung mitzuwirken, gut bezahlen lassen. Ein Stolperstein wird allerdings die Kurdenfrage bleiben. Hier kann es eine Konvergenz der syrischen und türkischen Interessen geben, wie schon einmal vor 22 Jahren, als der PKK-Führer Öcalan aus Syrien ausgewiesen worden war. Doch diesmal müsste Iran mitspielen.
Überraschungen sind nicht ausgeschlossen
Manche Beobachter nahöstlicher Politik allerdings deuten die iranisch-türkische Annäherung als ein rein taktisches Sicherheitsbündnis, sollte das eigentlich politische Ziel, nämlich eine Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien scheitern. Tatsächlich wächst selbst in den Vereinigten Arabischen Emiraten die Bereitschaft, zumindest auf informeller Ebene einen Ausgleich mit dem Iran zu suchen. Für einige Politiker in den VAE ist der schiitische Iran weniger bedrohlich als die Politik der Muslimbrüder, die in der türkischen Regierung einen machtvollen Patron gefunden haben. Saudi-Arabien und die VAE haben sicherlich ein grosses Interesse, die Türkei zu isolieren. Noch ist nicht zu erkennen, ob die saudischen Prinzen ein solches diplomatische Wagnis eingehen werden.
Wie auch immer das Spiel der Restaurationspolitik ausgehen wird, der Auftakt scheint mit dem Besuch des iranischen Außenministers am 15. Juni in Ankara gemacht. Er wird bald nach Moskau reisen, und auch ein weiterer Besuch in Damaskus ist Teil seiner Reiseplanung. Dass er diesmal persönlich reist und sich nicht auf Video-Treffen einlässt, deutet darauf hin, dass der Iran hier nichts dem Zufall überlassen möchte. Am Ende könnte tatsächlich die Aushandlung und Verfestigung einer neuen nahöstlichen bipolaren Ordnung stehen.♦
REINHARD SCHULZE*
*Reinhard Schulze, geboren 1953 in Berlin, wurde 1981 nach dem Studium der Islamwissenschaft, Linguistik und Romanistik an der Universität Bonn promoviert. Nach der Habilitation 1976 bekleidete er Professuren an den Universitäten Bochum und Bamberg, und wirkte von 1995 bis 2018 als ordentlicher Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern. Seit 2018 leitet er dort das transdisziplinäre Forum Islam und Naher Osten.
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