Der Beweis eines Zerfalls
Khameneis Flehen für die Teilnahme an den Wahlen hat nichts genützt. Die Mehrheit der Iraner*innen blieb am 21. Februar zuhause. Laut der Nachrichtenagentur FARS haben in Teheran nur 30 Prozent der Wahlberechtigten ihre Wahlzettel abgegeben, im Rest des Landes sollen es 40 Prozent gewesen sein. Beobachtern gelten die leeren Wahllokale als Beweis für den Zerfall des islamischen Systems. Dafür gibt es viele Gründe.
Von Nasrin Bassiri
Einige Tage vor den Parlamentswahlen wurde das Ergebnis einer Umfrage der Teheraner Universität veröffentlicht. Nur 24 Prozent der Befragten in der Hauptstadt Teheran hatten sich bereit erklärt, an den Wahlen teilzunehmen. 93 Prozent hatten angegeben, mit der allgemeinen Situation des Landes und der Staatsführung nicht zufrieden zu sein. Das eigentlich Neue an diesen Nachrichten ist, dass sie ausgerechnet von der Nachrichtenagentur FARS verbreitet werden: einer staatlichen Agentur also, die sich offensichtlich nicht mehr scheut, Informationen zu verbreiten, die dem Regime nicht gefallen dürften.
Als Hassan Rouhani im Sommer 2013 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, bezeichnete er seine neue Regierung als „Regierung der Hoffnung“. Doch am Ende seiner zweiten Wahlperiode erlebte die iranische Bevölkerung im November 2019 die blutigsten Straßenschlachten in der 41-jährigen Geschichte der islamischen Republik. Die Zahlen über mehrere Hundert Tote beim gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die damaligen Proteste gegen Benzinpreiserhöhungen stammen von Amnesty International, von 1.500 Toten spricht die Nachrichtenagentur Reuters. Die iranische Justiz und die Behörden hüllen sich in Schweigen.
Fälschung der Wahrheit
Als am 8. Januar ein ukrainisches Passagierflugzeug nahe Teheran vom Himmel stürzte und alle 176 Menschen an Bord ums Leben kamen, behaupteten iranische Verantwortliche drei Tage lang, das Flugzeug sei aus technischen Gründen abgestürzt. Als Videos einen Raketenabschuss der Maschine belegten, schwenkten sie um und erklärten, das Flugzeug sei von einem iranischen Militärstützpunkt aus „irrtümlich“ abgeschossen worden.
Heute, mehr als sieben Wochen nach dem Absturz, wurde weder ein Schuldiger gefunden noch wurde der Verantwortliche, der den „irrtümlichen“ Befehl erteilte, der Öffentlichkeit präsentiert. Niemand ist zurückgetreten oder musste öffentlich Rede und Antwort stehen. Keiner hat sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt, auch nicht das religiöse Staatsoberhaupt Ali Khamenei, das als Oberbefehlshaber der iranischen Streitkräfte von Amts wegen zuständig wäre. Der 81-jährige Khamenei bedauerte bei einer Freitagpredigt lediglich, dass das „schmerzliche Ereignis“ die Aufmerksamkeit auf sich ziehe, die – seiner Ansicht nach – dem Mordanschlag auf den iranischen General Qasem Soleimani gelten solle.
Verärgerung und Unzufriedenheit
Laut offiziellen Statistiken, von Präsident Rouhani selbst zitiert, sind 60 Millionen der insgesamt 85 Millionen Iraner*innen auf staatliche Hilfe angewiesen. Die Staatskassen sind leer, Korruption und unqualifizierte Akteure haben der Wirtschaft des Landes die Kehle zugeschnürt. Viele Menschen auch mit guter Ausbildung sind arbeitslos, nicht selten schuften promovierte Männer in der Baubranche, Akademikerinnen bieten selbst gekochte Speisen, Marmeladen und saure Gurken zum Verkauf an, um zu überleben. Und auch, wer eine angemessene Arbeit hat, kann mit dem Lohn oft die Familie nicht durchbringen.
Die Inflationsrate betrug laut der Nachrichtenagentur Tasnim, die der Revolutionsgarde nahe steht, in vergangenen Jahr 42 Prozent, Tendenz steigend.
Auch das Durchschnittsalter der Sex-Arbeiterinnen im Iran ist stark gesunken, nicht selten sieht man ganz junge Mädchen, Kinder von 12 Jahren, die ihre Körper verkaufen, um sich und ihre Geschwister zu ernähren. Junge Iranerinnen werden in reiche arabische Emirate und Nachbarländer verkauft und in Bordellen versklavt. Laut Statistiken ist die Hälfte alle Sexarbeiterinnen verheiratet und übt den Beruf aus, weil die Ehemänner arbeitslos oder drogensüchtig sind.
Sanktionen, Misswirtschaft, Korruption
Der Staat ist nicht in der Lage, mit so vielen Problemen fertig zu werden. Er ist selbst ein Teil des Problems. Hossein Fereydoun, Bruder, Assistent und Berater von Staatspräsident Rouhani, sowie Mehdi Djahangiri, der Bruder von Rouhanis erstem Stellvertreter Eshagh Djahangiri, sitzen wegen Vorteilsnahme und Bestechlichkeit im Gefängnis. Rouhanis Bruder ist bereits zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Die Tochter des ehemaligen Industrieministers Shabnam Nematzadeh wurde wegen Verstößen gegen die Wirtschaftsordnung des Landes zu 20 Jahren Haft und 74 Peitschenhiebe verurteilt. Dabei sind die Angehörigen der Regierung Rouhani nicht die größten Gauner und Geldwäscher. Dass ihre Fälle bekannt und sie verurteilt wurden, liegt daran, dass sie den Machtzentren nicht ganz so nahe stehen wie die Hardliner um Khamenei und die Revolutionsgarde.
Die Revolution frisst ihre Enkelkinder
Fortsetzung auf Seite 2