Der Beweis eines Zerfalls

41 Jahre nach der islamischen Revolution im Iran haben diejenigen, die heute auf den iranischen Straßen gegen Missstände und Machthaber protestieren, keine direkten Erinnerungen mehr an die Gräueltaten der Vergangenheit. Die Angehörigen der dritten postrevolutionären Generation haben nicht aus nächster Nähe gesehen, wie ihre Angehörigen verschwinden, wie Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Oppositionelle von der Straße entführt und umgebracht wurden, haben die Hinrichtungen von Tausenden Regimekritiker*innen in den späten Achtzigerjahren nicht selbst miterlebt.

Sie sind von Kindesbeinen an virtuelle Weltbürger*innen, beherrschen dank des Internets einige Fremdsprachen, sehen ausländische Filme, lesen ausländische Zeitungen und stehen in Kontakt zu den um die fünf Millionen ins Ausland emigrierten Iraner*innen, darunter Verwandte und Freund*innen. Sie haben weniger Angst vor der Obrigkeit und bringen den mächtigen Männern im Land keinen großen Respekt entgegen. Der 81-jährige Ali Khamenei ist für sie weder ein Anführer noch ein Vorbild.

Kurz gesagt: Eine junge und gebildete Bevölkerung, die über virtuelle Kanäle internationale Vernetzungen nutzt, lässt sich nicht mehr leicht von rückwärtsgewandten Greisen beeindrucken, die sich bei ihren Argumenten auf Überlieferungen des Propheten und der Imame beziehen. Das ist heute für einen großen Teil der iranischen Bevölkerung nicht mehr akzeptabel, geschweige denn für die 20- bis 25-Jährigen, die ihre Freiheit genießen und Partys feiern wollen, Musik hören und spielen, Sport treiben, Filme ansehen und chatten.

Zunehmend gebildet

Laut der Nachrichtenagentur Mehr studieren derzeit über vier Millionen Menschen im Iran.

Rechnet man diese Zahl hoch, haben in den vergangenen 20 Jahren etwa 20 Millionen Menschen im Iran einen Hochschulabschluss gemacht. Der stellvertretende iranische Wissenschaftsminister Mojtaba Shariatiniasar sagte, bei den Zahlen der Studierenden im Ingenieurwesen stehe der Iran weltweit auf dem zweiten Platz.

Kein Andrang vor dem Wahllokal in der Stadt Khorramabad:

Etwa 60 Prozent der Hochschulabsolvent*innen sind Frauen. Die Hochschulabsolventinnen lassen sich von Männern in Familie, Gesellschaft und Politik nicht ausgrenzen. Die jungen Iranerinnen finden viele Auswege, um nicht in das enge Korsett der islamischen Regeln gepresst zu werden. Sie lassen das Heiraten sein, wenn mittelalterliche Ehegesetze von Frauen Gehorsam verlangen und alle Entscheidungen den Männer überlassen. Sie machen Musik, fahren Skateboard und leben in „wilden Ehen“, die im Iran „weiße Ehen“ genannt werden und ihnen erlauben, sich zu trennen, wenn sie wollen und ohne Erlaubnis ihres Ehemannes ins Ausland zu reisen.

Gleichzeitig jedoch werden Frauen, die ihr Kopftuch öffentlich ablegen, um gegen den Schleierzwang zu protestieren, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Yasaman Aryani, Monireh Arabshahi und Mojgan Keshawarz wurden zu insgesamt 55 Jahre Haft verurteilt. Die Anwältin Nasrin Sotoudeh, die Anti-Kopftuch-Aktivistinnen verteidigte, erhielt eine Haftstrafe von 38 Jahren.

Auch Männer kehren dem Regime den Rücken

Seit November kehren auch zahlreiche ehemalige Amts- und Würdenträger Khamenei den Rücken. Mehdi Karubi, bis 2009 Parlamentschef und dann Gegenkandidat von Mahmoud Ahmadinedschad bei den Parlamentswahlen, lebt bereits seit über 10 Jahren unter Hausarrest. Im November attestierte er Khamenei in einem Offenen Brief, dieser habe kein einziges Merkmal, das ihn für die Führung qualifiziere.

Mir Hossein Mussavi war von 1981 bis 1989 iranischer Ministerpräsident. Auch er kandidierte 2009  für das Präsidentenamt und steht seither wie Karubi ohne Gerichtsverhandlung unter Hausarrest. Mussavi verglich Khamenei nach den Protesten im November mit dem Schah, einem Diktator, der Widersacher erschießen ließ.

Der Philosoph Khashayar Deyhimi, der 120 literarische und philosophische Werke übersetzt und herausgegeben und für den „Verbund der Reformisten“ zahlreiche Wahlkämpfe organisiert und geleitet hat, sprach Khamenei in einem Brief direkt an: „Du denkst, die Bürger seien verunsichert und hätten Angst vor Dir! Irrtum! Du hast kein Recht dazu, die Träume von 70 Millionen Menschen auf dem Altar Deiner Selbstgefälligkeit und Deines Hasses zu opfern.“

Und Mostafa Tajzadeh, ein reformistischer Politiker, der viele Jahre im Gefängnis verbrachte und davor unter Chatami stellvertretender Innenminister war, schlägt ein Referendum über eine Verfassungsänderung mit dem Ziel vor, die Position des geistlichen Staatsoberhaupts abzuschaffen. Sie solle künftig mit der des Staatspräsidenten verschmolzen werden, so Tajzadeh. Der Amtsträger solle dann das Amt nur für begrenzte Zeit übernehmen und – anders als jetzt – der Bevölkerung Rechenschaft schuldig sein.

Immer mehr Politiker und Akteure, die einst ein Teil des Systems waren, stellen damit die Autorität von Khamenei und die Position des religiösen Staatsoberhaupts infrage. Dabei geht es nicht mehr um kleine Verbesserungen und liberalere Auslegungen der Gesetze, um Hardliner oder Reformisten.  Es wächst ein Einvernehmen darüber, dass das islamische System im Jahr 2020 weder für die Iraner*innen Bestand haben kann noch in der heutigen Weltgemeinschaft akzeptabel ist. Das Fass ist voll und wird in absehbarer Zeit sehr wahrscheinlich überlaufen.

Quellen: Tasnim , Eghtesad , Mehr , Rouydad24 , aftabnews

© Iran Journal

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