Flucht in die Apokalypse
Der anti-israelische Al-Quds-Tag fand in diesem Jahr nicht statt. Weder in Berlin noch im Iran oder im Libanon gab es die traditionell am letzten Freitag des Fastenmonat Ramadan stattfindende Demonstration: ein Novum, sowohl für die islamische Republik als auch für die libanesische Hisbollah. Während Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah seine Organisation und alle schiitischen Aktivisten in einem Belagerungszustand sieht, flieht der iranische Revolutionsführer verbal ins Drastische und Diffamierende. Er scheut nicht einmal davor, das Wort „Endlösung“ im Zusammenhang mit Juden zu benutzen.
Von Ali Sadrzadeh
Ewig ist die Macht mancher Mythen. Ist der Mythenerzähler jemand wie Hassan Nasrallah, Chef der libanesischen Hisbollah, verwandelt sich das Narrativ in eine politische Beschreibung der gegenwärtigen Lage und Handlungsanweisungen für die Anhängerschaft.
Am 8. Mai hielt Nasrallah in seinem eigenen TV-Sender Al Manar eine lange angekündigte Ansprache, auf die viele mit Spannung gewartet hatten. Und er war sich sicher, dass seine Worte an diesem Abend nicht nur im Libanon und im Iran, sondern auch in Deutschland mit Interesse wahrgenommen würden. Denn Nasrallah hatte an diesem Abend nach dem Fastenbrechen aus seinem Versteck viel zu verkünden: über die libanesische Krise, die nicht enden will, über das tödliche Coronavirus, das in seinem Land grassiert, und über das Aktivitätsverbot seiner Anhänger*innen in Deutschland, das der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) eine Woche zuvor angeordnet hatte.
Ort des Mythos: ein Busbahnhof
All diese unterschiedlichen Krisen und Katastrophen fasste Nasrallah in einem schiitischen Mythos zusammen: Nicht nur die Hisbollah, sondern die gesamte „Achse des Widerstands“ befinde sich momentan im Tal von Abu Taleb, wie einst der geliebte Prophet Mohammad. So beschrieb der Hisbollah-Chef die Lage der eigenen Partei im Libanon, die seiner Mentoren in Teheran und jene seiner Anhänger*innen in Deutschland.
„Achse des Widerstands“ ist das Synonym für alle schiitischen Aktivist*innen und Paramilitärs weltweit. Nach dieser Ansprache realisierten die gläubigen Schiiten sofort, in welcher Lage sich ihre Achse und sie selbst sich befinden – und was zu tun sei.
Das Tal gibt es heute nicht mehr. Der Ort dieses schiitischen Mythos ist jetzt ein Busbahnhof unweit von Kaaba, dem großen Gotteshaus in Mekka. Dass der für Schiiten geschichtsträchtigen, ja heiligen Stelle dieses profane Schicksal zuteil wurde, liegt daran, dass die in Saudi-Arabien herrschenden Wahabiten die schiitische Erzählung für baren Unsinn, für Fake News halten.
Wir sind alle belagert, wie einst der Prophet
Der Busbahnhof, der tatsächlich einst ein Tal war, gehörte der Legende nach Abu Taleb, Vater von Ali, dem ersten Imam der Schiiten, und auch ein Onkel des Propheten. Im Jahr 617 musste er seinen bedrohten und schutzlosen Neffen retten. Seit sieben Jahren behauptete Mohammad damals, er sei ein Gesandter Gottes, und missionierte für seine Religion. Anfänglich nahmen die Stammesführer und mächtigen Männer in Mekka Mohammad und seine Mission nicht ernst, sie ignorierten oder verlachten den Mann, der Koranverse zitierend durch die Gassen zog. Doch langsam wurden sie Mohammads überdrüssig, denn er gewann zunehmend Unterstützer. Die Lage wurde brenzlig, es bestand Lebensgefahr, der Prophet und seine kleine Anhängerschar mussten sich verstecken.
Der Onkel gewährte der kleinen Gemeinde in seinem Tal Zuflucht. Drei Jahre fristeten Mohammad und die Neugläubigen unter strikter Belagerung ein schwieriges Dasein. Nahrungsmittel und Wasser wurden nachts ins Tal geschmuggelt. Nach dieser qualvollen Zeit begann die Einigkeit der Gegner zu zerbröckeln – sie wussten nicht, wie sie mit Mohammad umgehen sollten. Die kleine Gruppe durfte schließlich das Tal verlassen. Mit der Aufhebung der Blockade begann der Siegeszug der neuen Religion, den Rest kennen wir.
Gott ist mit den Geduldigen
Nachdem er diesen Mythos erzählt hat, zitiert Nasrallah in seiner Ansprache jenen Koranvers, den Mohammad aus Anlass dieser dreijährigen Belagerung empfangen haben soll:
يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا اسْتَعِينُوا بِالصَّبْرِ وَالصَّلَاةِ ۚ إِنَّ اللَّهَ مَعَ الصَّابِرِينَ)
„Oh Gläubige, müht Euch um Geduld, verrichtet das Gebet, Gott ist mit den Geduldigen“.
Will heißen: Der Sieg sei zwar gewiss, aber der Triumph brauche Ausdauer: Seid also geduldig wie einst der geliebte Prophet.
Nasrallahs Ansprache ist in Wahrheit eine Kehrtwende. Er sieht die „Achse des Widerstands“ im Belagerungszustand, und er rät zu Geduld. Das gilt auch für seine Anhänger*innen in Deutschland. Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen hat die Hisbollah in diesem Jahr die so genannten Al-Quds-Demonstrationen abgesagt. Nicht nur im Libanon, sondern weltweit sollten an diesem letzten Freitag des Fastenmonats Ramadan keine Aufmärsche gegen Israel stattfinden – auch in Berlin nicht. Eine Eskalation mit Deutschland ist offenbar nicht opportun. Selbst auf das Verbot des deutschen Innenministers reagierte Nasrallah erstaunlich mild. Kein Wort der Verurteilung oder Klage, dass Horst Seehofer die Hisbollah als Terrororganisation bezeichnet hatte. Die Partei Gottes habe keine Mitglieder in Deutschland, sagte Nasrallah und rief alle Libanesen in Deutschland zu Gesetzestreue auf. Die Zeiten der Verbaloffensive scheinen vorbei. Angesagt sind Durchhalteparolen.
Der Mentor spricht von „Endlösung“
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