Aufständische übernehmen die Macht in Syrien - Foto: khabaronline.ir

Tektonische Welle aus Damaskus

Der neue Nahe Osten, den Netanjahu am 7.Oktober 2023 der Welt versprach, nimmt viel schneller Gestalt an, als viele sich vorstellen konnten. Assads Flucht markiert den Höhepunkt dieses politischen Erdbebens.  

Von Ali Sadrzadeh

Wann erreicht der Zug Teheran? Ein Zug ist nicht nur eine Eisenbahn, er ist auch eine Kolonne, eine Kompanie oder ein Kommando. Per Flugzeug verlässt Baschar Al Assad am Sonntag früh Damaskus, als die Kolonne der Rebellen dort ankommt.

Wenige Stunden zuvor hatte der iranische Außenminister gefordert, Assad müsse mit der legalen Opposition reden. Als der Minister dies sagte, befand er sich in Doha, Qatars Hauptstadt, um dort mit seinen türkischen und russischen Amtskollegen über Assads Schicksal zu sprechen.

Folgte der syrische Präsident diesem Rat und verließ auf der Suche nach seiner „legalen Opposition“ seinen Palast? Die libanesische Hizbollah, die ihn bis dahin auf seinem Territorium verteidigte, existiert militärisch nicht mehr. Schwer anzunehmen, dass er im Trümmerhaufen Gaza noch etwas findet.

Mit unbestimmtem Ziel habe Assad seine Residenz verlassen, melden die Organe der iranischen Revolutionsgarden. Der Radar von Assads Flugzeug sei nach dem Verlassen des syrischen Luftraums abgeschaltet worden, berichtete Flightright.

Vierzehn Monate war der Zug, der dahin geführt hat, unterwegs. Am 7. Oktober 2023 startete er in Gaza. Anfang September 2024 erreichte er mit voller Wucht Libanon, und just an dem Tag, als dort eine fragile Feuerpause gemeldet wurde, kam der Zug nach Aleppo. Von da an nahm er eine bemerkenswerte Geschwindigkeit auf. Ohne auf eine nennenswerte Schranke zu stoßen, erreichte er in nur fünf Tagen sein Ziel.

Wer die Insassen dieses Zuges sind und wer im Führerstand sitzt, ist noch nicht klar. Abu Mohammad Dschaulani heißt der, der von den Agenturen oft genannt wird. Aber er selbst nennt sich nicht mehr so; das war sein Kampfname, als er noch bei Al Qaida war. Seit er als Zugkommandant in Aleppo angekommen ist, nennt er sich Ahmad Al Schar’a – so, wie es in seinem Ausweis steht. Seine Miliz trägt den Namen هیات تحریر الشام, Front zur Befreiung der Levante.

Beide haben jetzt nichts mehr zu lachen: Bashar Al Assad (li.) und sein Patron, Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei
Bashar Al Assad (li.) und sein wichtigster Unterstützer, Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei – Foto: khamenei.ir

Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Iran

In einem CNN-Interview sagte er am 6. Dezember, er könne sich eine strategische Zusammenarbeit mit dem Iran sehr gut vorstellen. Sein Vorbild scheinen offenbar die afghanischen Taliban zu sein. Denn auch mit diesen kommen die Teheraner Herrscher sehr gut zurecht, ja, sie ahmen sie sogar nach. Das verdeutlichte jüngst das neue Hijab-Gesetz, das drakonische Strafen für Frauen vorsieht, die sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zeigen.

Doch Dschaulani oder Al Schar’a, wie er jetzt heißt, sitzt nicht allein im Führerstand. Bis zu einhundertzwanzig Zugkommandanten soll es geben, sagen manche Beobachter.

Die iranische Botschaft in Damaskus wurde von den Aufständischen besetzt und demoliertRiad Al Asaad, Befehlshaber der „Freien Syrischen Armee“, ist einer der wichtigsten dieser Anführer. Seine Truppe war bis jetzt hauptsächlich an der syrisch-türkischen Grenze aktiv, und der türkische Präsident ist sein eigentlicher Finanzier und Ausrüster. Al Asaad ist ein ausgesprochener Gegner der Teheraner Herrschaft, im Gegensatz zu Dschaulani/Al Schar’a. Iran sei einer der Hauptverantwortlichen für die syrische Katastrophe, sagte Al Asaad fast zur gleichen Zeit und forderte Israel auf, sich mit ihm gegen den Iran zu verbünden.

Die iranische Botschaft in Damaskus wurde von den Aufständischen besetzt und demoliert
Die iranische Botschaft in Damaskus wurde von den Aufständischen besetzt und demoliert

In Luft aufgelöst

Bashar Al Assads Sturz ist eine tektonische Welle, die den Nahen Osten völlig verändern wird. Die so genannte Achse des Widerstands, der eigentliche außenpolitische Arm der Teheraner Macht, hat sich mit Assads Flucht aus Damaskus praktisch in Luft aufgelöst. Was sich die Mullahs nun für ihr Überleben einfallen lassen werden, ist noch völlig ungewiss. Ihnen stehen sehr harte Tage bevor.

Kaum war Assads Flugzeug in Richtung Nirgendwo gestartet, sagte ein Sprecher des iranischen Außenamts, Iran werde sein Atomprogramm unter die völlige Kontrolle der IAEA, der Internationalen Atomenergiebehörde, stellen.

نرمش قهرمانانه, „heldenhafte Geschmeidigkeit“ soll die „Leitlinie unserer Außenpolitik sein“, sagte einst Ali Khamenei. Wie viel Geschmeidigkeit er nach Innen zulässt oder künftig zulassen muss, werden wir in nicht allzu lange Zeit erleben.♦

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