Wohin mit dem Atom-Programm des Iran?
Eine Momentaufnahme

Je weiter die Zeit voranschreitet, umso konfuser, komplexer und bedrohlicher wird die Situation des Nuklearprogramms der Islamischen Republik Iran.

Von Behrooz Bayat

Der törichte Austritt der Trump-Administration im Mai 2018 aus der drei Jahre zuvor abgeschlossenen Nuklearvereinbarung zwischen der Islamischen Republik Iran (IRI) auf der einen und den USA, Großbritannien, Frankreich, China, Russland und Deutschland auf der anderen Seite, genannt Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), wurde von der IRI, namentlich von deren geistlichen Führer Ali Khamenei, als willkommener Anlass begriffen, das Atomprogramm zu dem Zweck, zu dem es ursprünglich gedacht war – nämlich zur Abschreckung – zu reaktivieren und mit aller Macht voranzutreiben.

Aber auch die EU- und US-Administrationen haben ihre JCPOA-Verpflichtungen nicht ernst genommen: Die JCPOA war in den USA von vorneherein ein Zankapfel im fundamentalen Streit zwischen den Republikanern und den Demokraten, und die Europäer haben keine selbstständige Politik an den Tag legen können.

Spiegelbildlich dazu war im Iran ein Kampf zwischen zwei Flügeln des IRI-Regimes entbrannt, nämlich zwischen den fundamentalistischen Hardlinern unter Khamenei und den eher realpolitisch orientierten Islamisten unter dem damaligen Präsidenten Hassan Rohani, der bei Beibehaltung der despotischen Herrschaft eine ökonomische Öffnung Richtung Westen ermöglichen wollte.

Letztendlich obsiegten beiderseits die Extremisten: das Gespann Trump-Netanyahu und Ali Khamenei angelehnt an seinen russischen Verbündeten haben die Atom-Vereinbarung quasi gesprengt.

Abschreckung revitalisiert und Nuklear-Doktrin aktualisiert

Die IRI hat offensichtlich nunmehr entschieden, ihr Nuklearprogramm (NP) über die Abschreckung hinaus als Mittel zur Erpressung von Zugeständnissen und anderen Auspressungen zu nutzen. Daher hat sie neben der Forcierung der Uran-Anreicherung jene Mengen an Uran mit 60% U235 angehäuft, die nicht anders als ein demonstrativer Schritt in Richtung der Herstellung eines nuklearen Sprengkopfes verstanden werden können.
Als wenn dies nicht genug wäre, beeilten sich die ehemaligen Würdenträger des Regimes wie Kamal Kharrazi und Ali Akbar Salehi, beide ehemalige Außenminister und letzterer auch der Chef der IRI-Atomenergiebehörde, zu verkünden, dass das Regime die Fähigkeit zur Konstruktion einer Atombombe besäße – es wolle sie jedoch nicht bauen.

Später hat man weiter darauf gesattelt mit dem Hinweis, dass das Regime sich überlege, die Nuklear-Doktrin zu überdenken. Bislang hatte diese gelautet, dass der geistliche Führer Ali Khamenei in einer Fatwa, also einem religiösen Verdikt, die Herstellung und Anwendung der Atombombe als „unislamisch“ deklariert und verboten habe.

Josep Borrel, hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (li.) war einer der Optimisten, dass Iran sich bezüglich des Atomkonflikts dem Westens annähern werde - Foto: mit dem verstorbenen iranischen Außenminister Amir-Abdollahian
Josep Borrel, hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (li.) war langer Zeit der Meinung, dass Iran sich bezüglich des Atomkonflikts dem Westens annähern werde – Foto: mit dem verstorbenen iranischen Außenminister Amir-Abdollahian

Zögerlichkeit des Westens, Ermunterung des IRI-Regimes

Die Konsequenz ist, dass die IRI sämtliche technische Schranken für ihr NP über Bord geworfen hat, so dass ihr Abstand zur Bombe immer kürzer wird. Dies bedeutet aber nicht, dass das Regime bald die Bombe bauen und auch einsetzen kann. Genügend 90%-angereichertes Uran macht noch keine Bombe.

Die JCPOA war so konzipiert, dass die „Break-out time“, also die benötigte Zeit von der Entscheidung bis zur Herstellung von 90%-angereichertem Uran, ausreichend für eine Bombe, mindestens ein Jahr betrug. Fakt ist jedoch, dass diese „Break-out time“ jetzt auf wenige Wochen geschrumpft ist.

In der komplexen weltpolitischen Gemengelage, in der der Westen und die USA mit dem russischen Aggressionskrieg in der Ukraine, dem verheerenden Krieg der israelischen Armee in Gaza, der Eindämmung der Volksrepublik China und dem Migrationsproblemen beschäftigt sind, haben diese Mächte kein Interesse an der Entstehung eines neuen Unruheherdes im Mittleren Osten, geschweige denn Lust auf einen Krieg mit dem Iran – und das ist erfreulich, da ein Krieg im Iran ein absolutes Elend wäre.

Dieses Verhalten des Westens beruht darauf, dass die europäischen Mächte und die USA einerseits aus der jüngeren Geschichte gelernt zu haben scheinen, dass ein Krieg im mittleren Osten nicht gewinn- und kontrollierbar ist, und andererseits eine abermalige Erschütterung in dieser Region zu Kriegsflüchtlingsströmen führen würde, die fast alle Demokratien Europas gefährden könnten.

Sich dessen bewusst, glaubt Khamenei sich über die Forderungen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) hinweg setzen zu können, ohne ernsthafte Repressalien zu befürchten. Das Nicht-Erfüllen der IAEA-Forderungen hat sich in den letzten Jahren graduell entwickelt. Nun ist eine Situation erreicht, in der sowohl die IAEA als auch der Westen und die USA in Zugzwang geraten sind.

Rafael Grossis Sorge

Ein Ausdruck dieser verfahrenen Situation sind die Äußerungen von Rafael Grossi, Generaldirektor der IAEA. In der letzten Zeit ist bei ihm eine gewisse Verunsicherung vernehmbar, die auf seine Sorge darüber hinweist, die Kontrolle über das IRI-Nuklearprogramm zu verlieren. Er bedient sich zunehmend einer weniger diplomatischen Sprache, in der er auch zum ersten Mal die Analogie bemühte, dass die IRI den Weg von Nordkorea beschreiten könnte. Daher war er sehr bestrebt, mit Teheran im Gespräch zu bleiben, in der Hoffnung, vom islamischen Regime Zugeständnisse zur Wiederherstellung der Transparenz zu bekommen. Er unternahm mehrere Reisen nach Teheran, bei denen es ihm gelang, vage Zusagen zu erhalten, allerdings Zusagen, die weitgehend folgenlos blieben.

Der Westen rafft sich auf
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