Kurze Anatomie eines Sicherheitsapparates

Diese Zivilisten, die eigene Gesetze haben, denen gegenüber sogar Polizisten machtlos sind, nennt man auf persisch لباس شخصی ها (Zivilgekleidete). Sie sind weder Militärs noch Polizisten oder Geheimdienstler. Trotzdem sind sie ein effektiver Teil des Sicherheitsapparates. Es sind meist Halbstarke, Schutzgeldeintreiber, Lumpenproletarier und gewalttätige Bezirks- und Stadtteilgrößen, die sich um Moscheen und deren Vorbeter, um religiöse Stiftungen oder um eine der zahlreichen Propagandaorganisationen herum sammeln. Bei Unruhen und Protesten werden sie mobilisiert und mit Motorrädern und Schlagstöcken ausgerüstet.

Ironie der Geschichte: Für diese „Republik“, die von einem Ayatollah („Zeichen Gottes“) geführt wird, ist dieses Lumpenpack zur Niederschlagung von Oppositionellen und Straßenaufmärschen viel effektiver und zuverlässiger als der klassische Sicherheitsapparat, der vertikal organisiert ist.

Wie effektiv, das beschrieb der Vizekommandant der Revolutionsgarden, Hossein Hamedani, vor Jahren in einem Interview darüber, wie er mit Hilfe dieser „Zivilisten“ die Proteste von 2009 niederschlug. Hamedani war auch Befehlshaber der iranischen Truppen in Syrien, wo er vor sechs Jahren getötet wurde. Die Protestwellen nach den Wahlen von 2009 waren bis dahin die größte Krise der islamischen Republik. Wochenlang dauerten die Unruhen; auf ihrem Höhepunkt marschierten vier Millionen Menschen schweigend durch die Straßen Teherans. Sie trugen nur Plakate mit sich, auf denen unter anderem stand: „Wo ist meine Stimme?“

„Ich organisierte etwa achttausend von diesen Halbstarken aus verschiedenen Stadtteilen, rüstete sie aus, postierte sie in den Schul- und Regierungsgebäuden sowie in den Moscheen. Dann gab ich ihnen den Befehl: Räumt auf, nichts soll sich mehr auf den Straßen bewegen. Innerhalb von zwei Tagen war der Spuk vorbei. Denn sie kennen ihre eigenen Straßen bestens“, erzählte Hamedani im Mai 2016 einer Zeitung seiner Heimatstadt Hamedan, wenige Monate vor seinem Tod auf dem syrischen Schlachtfeld.

Die Paramilitärs

Diese „Zivilgekleideten“ darf man nicht mit den بسیجی, den paramilitärischen Basidjis verwechseln. Die Basidj ist eine Freiwilligenarmee mit einer Tradition, die so alt ist wie die islamische Republik selbst. Es waren junge Freiwillige, die in den ersten Jahren der Revolution einem Aufruf Ayatollah Chomeinis folgten, sich am Krieg gegen den Irak zu beteiligen oder auf den Dörfern den Bauern zu helfen. Heute sind die Basidjis eine militärische Kaderorganisation, die wie paramilitärische Verbände organisiert und für besondere Aufgaben im Inneren eingesetzt werden. Sie unterstehen den Revolutionsgarden.

In diesem Video greifen die „Zivilgekleideten“ die Student:innen der Teheraner Universität bei einer Protestkundgebung an:

https://twitter.com/FarahmandAlipur/status/1586321215488405505

Elf Millionen Freiwillige und Reservisten stünden zur Verfügung, behaupten die Garden. Militärisch aktive Basidjis beziehen Sold, die Freiwilligen erhalten Privilegien wie Studienplätze, Wohnungen oder Jobs. Jede staatliche Körperschaft, ob Schule, Krankenhaus, Universität oder Ministerium, hat eine eigene Einheit von Basidjis, die dort oft Schlüsselpositionen besetzen. Sie werden regelmäßig ideologisch geschult und sind bei allen Freitagsgebeten und anderen religiösen Veranstaltungen sowie staatlich organisierten Demonstrationen anwesend. Die bewaffneten Einheiten der Basidjis, die auf Motorrädern die Demonstrant:innen bis in die letzten Gassen verfolgen, verprügeln und verhaften, sieht man dieser Tage auf fast jeder Straße, an jeder Universität oder Schule. In ihrem Schlepptau die „Zivilgekleideten“. Die „Freiwilligen“, inaktive Basidjis, stammen meist aus ärmeren Schichten, sind gläubig, leben mit der Bevölkerung und teilen mit ihr mehr oder weniger den Alltag. Mit anderen Worten: Nicht alle Basidjis sind dagegen gefeit, vom „oppositionellen Virus“ angesteckt zu werden.

Die Mächtigen im Hintergrund

Das apolitische Lumpenpack, das für jeden Radau und Krawall zu haben ist, leistet momentan die meiste Drecksarbeit. Die Stunde der eigentlichen Macht ist noch nicht gekommen. Nach fast acht Wochen heftiger Proteste melden die Agenturen „nur“ 304 getötete Demonstrant:innen. Die Revolutionsgarden sind zu viel, viel mehr, gar mit syrischem Ausmaß, bereit: Das heutige Syrien ist auch ihr Werk.

Noch hoffen die Herrschenden, dass den Protestierenden langsam die Kraft ausgehen möge. Doch die Verhaftungen haben bereits eine noch nie dagewesene Dimension erreicht: Von 15.000 ist die Rede.♦

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