Proteste im Iran: Am Vorabend einer neuen Welt?

Wie vor 43 Jahren die islamische Revolution, wird auch die aktuelle Revolte nicht nur den Iran grundlegend verändern. Der politische Islam nähert sich dem Ende.

Von Ali Sadrzadeh

Es ist nicht der Iran, es ist die Welt, die dieser Tage an einem historischen Wendepunkt angekommen ist. Mahsas Tod hat den Iran längst und unwiderruflich verändert.

Vier Tage nach dem Beginn der Proteste sagte der kranke 84-jährige Ali Chamenei in seiner bis dato letzten Rede mühsam folgenden Satz: „Wenn man inmitten der Ereignisse, steht kann man nicht überblicken, was sich gerade ereignet.“ Wie wahr. Dieser Satz ist gerade eine Woche alt, und es ist der einzige, den der mächtigste Mann des Iran über den weltbewegenden Tod der jungen Iranerin Mahsa Amini bisher gesagt hat. Dieses Schweigen kann man verstehen, wie man will: Angst, Überraschung oder – wie Chamenei sagt – fehlender Überblick. Die Ereignisse gehen jedenfalls weiter, unvermindert und täglich blutiger.

Eine Weltrevolution?

Das Gesicht des Irans wird nicht mehr jenes sein, das wir vor Mahsas Tod sahen. Auch das Gesicht des Nahen Ostens und der islamischen Welt wird nach diesem Tod anders sein. So wie die islamische Revolution im Iran vor 43 Jahren die gesamte islamische Welt erschütterte, so wird auch diese Revolte, deren Parole „Frau, Leben, Freiheit“ ist, mit Sicherheit vieles jenseits der iranischen Grenzen verändern. Die Taliban, der islamische Staat, Al Qaida oder sogar die jüngste Islamisierung der Türkei durch Erbakan und Erdogan, sie alle waren sunnitische Antworten, politische Gegenmodelle zur schiitischen Revolution im Iran. So wie die russische Oktoberrevolution war die Machtergreifung der Mullahs im Iran vor 43 Jahren zweifellos eine Weltrevolution. Mit dieser Revolte nähert sich die Welt dem Ende des politischen Islams, den wir bisher gesehen haben. Keineswegs ist es übertrieben, zu sagen, es gibt einen Iran vor Mahsas Tod und einen anderen danach. Vieles bleibt trotzdem ungewiss.

Wer sind die Akteure der Szene ?

Wer die Akteure auf Irans Straßen sind und warum das Bild von Mahsa Amini zum Symbol eines vorrevolutionären Zustandes wurde, darüber liest man dieser Tage viel. Nützliches, Informatives und auch Banales.

Doch wer steht auf der anderen Seite, wie reagiert er und wohin will er?

Das Wer dieser Frage ist die Suche nach einer bestimmten Person, während das Wer der Straße ein Sammelbegriff ist, hinter dem sich unterschiedliche Menschen mit vielfältigen Motiven befinden. Im Wer der Straße kommt die aufgestaute Wut von vier Dekaden mannigfaltiger und gesetzlich verankerter Diskriminierungen zum Vorschein.

Dieses Wir ist gegen ein apartheidsähnliches System aufgestanden, unter dem Frauen, religiöse und nationale Minderheiten sowie jene Menschen leiden, die eine andere Lebensvorstellung haben. Eine Ordnung, in der sich unfähige und durch und durch korrupte Herrscher mit Lügen, Propaganda, Brutalität und „Taqiah“, der schiitischen Verstellungskunst, an der Macht halten wollen, koste was es wolle.

Ob das Wer der Straße dieses System der Erniedrigungen und Benachteiligungen überwinden wird, hängt von dem zweiten Wer ab.

Das Wer der Macht

Seit 33 Jahren ist Ali Chamenei offiziell der Führer dieser „Republik“ und Oberkommandierender aller Streitkräfte des Landes. Unruhen und Proteste gegen seine Herrschaft hat er in diesen drei Jahrzehnten viel erlebt, friedliche ebenso wie radikale. 2009 fand in Teheran gegen die Wiederwahl Ahmadinedschads ein Schweigemarsch von über drei Millionen Menschen statt. „Wo ist meine Stimme?“ lautete damals die Hauptparole der Proteste. Es war mehr oder weniger ein systemimmanenter Protest. Doch am Ende des mehrmonatigen Aufbegehrens ordnete Chamenei hartes Durchgreifen an. Mit bekannten Folgen: Hunderte Tote und Verletzte sowie Tausende Verhaftete. Und zehn Jahre später, als in über achtzig Städten Zehntausende Menschen gegen Preiserhöhungen mit radikalen Parolen auf die Straße gingen, zögerte Chamenei nicht. Er ordnete sehr schnell das Ausschalten des Internets im gesamten Land und den massiven Gewalteinsatz an. Als sich der Sturm legte, stellte man fest: Die Sicherheitskräfte hatten innerhalb von 10 Tagen mindestens 1.500 Protestierenden getötet und Tausende verhaftet.

Sein Wille geschieht

Der Wille des Führers ist also maßgebend dafür, wo und wie ein Protest endet bzw. ob man mit Demonstrationen, sei es friedlich oder radikal, etwas erreichen kann. Khameneis Macht ist gemäß der Verfassung fast ebenso uneingeschränkt wie sein eigener Machtwille. Wie lange er diesen Willen durchsetzen kann, ist ungewiss. Sehr lang wird es nicht mehr sein.

Am Tage von Mahsas Tod meldete die New York Times, Chamenei hätte seit einer Woche alle Treffen und öffentlichen Auftritte abgesagt, er sei schwer krank und befinde sich unter ständiger Beobachtung eines Ärzteteams. Dies hätten vier Personen, die mit seiner Gesundheitssituation vertraut seien, bestätigt. Er sei vor einer Woche wegen Darmverschlusses operiert worden, nachdem er unter extremen Bauchschmerzen und hohem Fieber gelitten hätte, schreibt die New York Times und fügt hinzu, die Informanten dieser Meldung seien vier Personen, von denen zwei im Iran ansässig seien, darunter eine mit engen Verbindungen zu den Revolutionsgarden, und alle hätten um Anonymität gebeten, denn die Gesundheit des Ayatollahs sei ein sehr heikles Thema.

Die Meldung verbreitete sich dank des Internets in Windeseile. Nach zwei Tagen offiziellem Schweigen kündigten die Presseorgane der Garden eine baldige Audienz des Führers an. Zwei Tage danach erschien er und zum ersten Mal in seiner langen Herrschaft hielt er stehend und mit schwacher Stimme eine kurze Rede, mit dem oben erwähnten Satz, dass man sich inmitten der „Ereignisse“ befinde. Danach feierte die iranische Presse diesen Auftritt als Beweis dafür, wie die westliche Presse lüge. Die New York Times schrieb danach, sie beharre trotz oder gerade wegen dieses eigenartigen Auftritts auf der Richtigkeit ihrer Darstellung von Chameneis Zustand.

Der Sohn, das System und die Zukunft

Wie krank oder gesund er auch sein mag, wie lange er noch am Leben bleiben wird: Chamenei will nicht nur die wenigen Herrschaftsjahre, die ihm noch bleiben, retten. Ihm geht es auch um seine islamische Ordnung und – noch wichtiger – um die Zukunft seines Nachfolgers.

مجتبی بمیری رهبری را نبینی „ (Mojtaba, du sollst sterben und nicht Führer werden) – das ist die Parole, die wir dieser Tage auf den Straßen Teherans hören. Mojtaba ist Chameneis Lieblingssohn, dessen Machtwille ebenso grenzenlos zu sein scheint wie der seines Vaters. Mojtaba soll dem System des Vaters entsprechend mit ausreichender Brutalität ausgestattet sein: Er sei genauso fanatisch antiwestlich wie sein Vater, sagen jedenfalls die, die ihn näher kennen.Was die Zukunft den Iranerinnen und Iranern tatsächlich bringen wird, kann man nur erahnen.

Vater Chamenei erlebt dieser Tag eine neue Phase seiner Herrschaft, mit der er nicht gerechnet hat. Nicht nur er, sondern fast alle Kenner des Irans inklusive anerkannter Soziologen und Politologen sind überrascht, wie und warum diese Eruption entstand.

Angesichts der grassierenden Inflation, der steigenden Arbeitslosigkeit und fehlender Perspektiven rechnete man mit einer baldigen Hungerrevolte der Ärmsten der Armen, denn der Mittelstand ist wirtschaftlich und politisch völlig neutralisiert worden. Doch in den Protesten dieser Tage ist weder von Arbeit noch von Brot oder Inflation die Rede.

زن، زندگی، آزادی“ (Frau, Leben und Freiheit)

Mahsa war ein kurdisches Mädchen und die Parole „Frau, Leben und Freiheit“ ging vom iranischen Kurdistan aus und fand im ganzen Land einen unüberhörbaren Widerhall. Auch in anderen Regionen mit anderen Minderheiten, bei Belutschen, Arabern und Azeris. Und das sagt viel aus über Solidarität jenseits der ethnischen Zugehörigkeiten.♦

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