Proteste im Iran:
Parlament löst eine Welle der Empörung aus

Das iranische Parlament hat am Sonntag mit 227 von 290 Stimmen beschlossen, die Justiz aufzufordern, „die Anführer:innen der Proteste“ und diejenigen, die bei den Protesten „Verbrechen“ begangen haben, wegen „Kriegs gegen Gott“ anzuklagen und zu bestrafen. Darauf steht im Iran die Todesstrafe.

Der Beschluss hat unter Iraner:innen in den Sozialen Netzwerken eine Welle der Empörung ausgelöst. Auch ausländische Menschenrechtsorganisationen, Medien und Politiker:innen verurteilten die Entscheidung der iranischen „Volksvertreter:innen“.

Bisher sind bei den seit mehr als sieben Wochen andauernden Protesten im Iran mehr als 14.000 Menschen verhaftet worden. Für mehr als 2.000 von ihnen soll der Prozess eröffnet worden sein. Die Gerichtsverhandlungen werden in Ausschnitten im Fernsehen übertragen, um andere Protestierende abzuschrecken. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Schauprozessen ohne Rechtsbeistand, bei denen die Urteile bereits gefallen seien.

Zuvor hatte Ahmad Khatami, ein einflussreicher Politiker und Vorbeter des Freitagsgebets in Teheran, von der Justiz verlangt, die festgenommenen Demonstrant:innen derart zu bestrafen, dass bei anderen „nie wieder der Wunsch nach Randalieren aufkommt“.

Bei den landesweiten Protesten im Iran zählten Menschenrechtsaktivist:innen bisher 316 Tote, darunter etwa 50 Minderjährige. Die meisten Toten gab es in der Provinz Sistan und Belutschistan. Über 60 Menschen sollen in der Provinz Kurdistan getötet worden sein. Mehrere Tausend Demonstrant:innen wurden verletzt.

Die Dunkelziffer der Getöteten und Verletzten liegt nach Meinung der Aktivist:innen viel höher, denn manche Familien wurden gezwungen, den Tod ihrer Angehörigen bei den Protesten nicht bekannt zu geben. Viele Verletzte meiden aus Angst vor der Verhaftung die Krankenhäuser.

Proteste gehen weiter

Trotz aller Drohungen der Regierenden setzten Studierende an verschiedenen Universitäten des Landes am Dienstag ihre Protestaktionen fort. Auch Straßenproteste gab es in mehreren Städten – mit den üblichen Parolen: „Tod dem Diktator“, „Tod Chamenei“.

Die Proteste nehmen immer mehr unterschiedliche Formen an: von Demonstrationen und Straßenschlachten mit den „Sicherheitskräften“ bis hin zu nächtlichen Klagerufen, Wandparolen und dem „Sprung des Turbans“. Dabei schlagen junge Frauen und Männer den Mullahs auf der Straße den Turban vom Kopf.

Einst war der Turban bei einem Großteil der iranischen Bevölkerung ein respekteinflößendes Symbol der Geistlichkeit und der Güte, heute wird er von vielen als Zeichen der Unterdrückung und Gewalt angesehen.

Auch iranische Sportler:innen zeigen ihren Protest auf unterschiedliche Arten. Die Nationalmannschaft des Strandfußballs hat beim Interkontinentalen Wettbewerb die Hymne des islamischen Regimes nicht mitgesungen. Ein einmaliger Akt, der Schule machte, denn auch die Wasserball-Nationalmannschaft hat sich die Hymne bei den Asienmeisterschaften stillschweigend angehört. Bei den Ringer-Weltmeisterschaften in Azerbaidschan hat das iranische Team den Sieger-Cup ohne das übliche Jubeln und mit traurigen Mienen entgegen genommen.

Erklärung zu Gewalt gegen Kinder

Nach Berichten persischsprachiger Medien haben mehr als 620 iranische Fachärzt:innen mit Bezug zur Pädiatrie eine Erklärung unterzeichnet, in der sie ein Ende der staatlichen Gewalt gegen Kinder fordern. Sie weisen dabei auf gewalttätige Behandlung von Kindern und Jugendlichen, einschließlich körperlicher Angriffe, verbale Beleidigungen und Drohungen hin. Sie betonen, Schüler:innen zu zwingen, an speziellen Propagandaaktionen des Regimes teilzunehmen, verursache starken Stress bei den Kindern.

In den vergangenen Wochen waren während der landesweiten Proteste Schüler:innen in einigen Schulen gezwungen worden, an von der Regierung organisierten Zeremonien teilzunehmen. Besonders auffällig waren die Aktionen zum Singen der Hymne „Salaam Farmandeh“ (Hallo oberster Kommandeur) zu Ehren des Staatsoberhaupts Ali Chamenei. Es wurden auch zahlreiche Jugendliche bei den Schlägertrupps im zivilen oder militärischen Outfit mit Waffen oder Schlagstöcken gesichtet.

Die als #IranRevolution bekannten landesweiten Proteste begannen am 16. September. Auslöser war der Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa (Jina) Amini. Sie war am 13. September von der Teheraner Sittenpolizei verhaftet und ein paar Stunden später bewusstlos in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Sie starb am 16. September. Sie soll nach Angaben von Augenzeugen bereits im Wagen der Polizei misshandelt worden sein. Die Regierung gab als Todesursache Herzversagen an, doch die Familie betonte, sie habe an keiner Krankheit gelitten. Die Protestierenden verlangten am Anfang die Bestrafung der Verantwortlichen und die Abschaffung der Moralpolizei. Der Staat antwortete mit Schrotflinten und Tränengas und bald mit Kriegsmunition.

Es hat den Anschein, als hätte auch diesmal die Waffengewalt die Oberhand gewonnen. In den meisten Städten haben die „Sicherheitskräfte“ die Straßen unter Kontrolle, doch nach Meinung vieler Expert:innen innerhalb und außerhalb des Irans sind die nächsten Proteste vorprogrammiert. Die Wut auf das islamische Regime sei größer als je zuvor und die sogenannte Generation Z habe ihre Angst vor der Staatsgewalt verloren. Selbst ein Teil der gemäßigten islamischen Politiker:innen wie etwa Parvaneh Salahschoori und Ali Motahari warnen: Sollten die Verantwortlichen auf die Forderungen der Jugend nicht eingehen, werden wir in naher Zukunft Zeug:innen erneuter, vielleicht noch blutigerer Aufstände in der Islamischen Republik sein. (fp)

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