Des ruhigen Gewissens wegen

Im Film wird dann in mehreren Szenen in der bedrohlichen und dichten Atmosphäre der Rechtsmedizin ausführlich über den Botulismus, seine Symptome, seine Ursache und Folgen referiert. Denn die detaillierten Erklärungen, die als Wendepunkt der Geschichte fungieren sollen, entlasten nicht nur Dr. Nariman und sein Gewissen, sie rechtfertigen auch den späteren Totschlag des Hühnerfleisch-Verkäufers durch Moosa.
Das Problem ist nur, dass dieser Plot als solcher nicht taugt: Denn das Botulismus-Gift lässt sich durch 15-minütiges Kochen bei 100° C deaktivieren. Das bedeutet, dass Amir das verdorbene Hühnerfleisch roh hätte verzehren müssen, wenn eine Lebensmittelvergiftung die Todesursache sein soll. Damit wirkt der Verlauf der weiteren Handlung, die sich auf den haltlosen Plot stützt, mehr als unplausibel.

Weitere Ungereimtheiten

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Fragen, die im Film unbeantwortet bleiben und somit die Nachvollziehbarkeit des Geschehens beeinträchtigen: Warum obduziert Dr. Nariman den Leichnam des Jungen am Tag nach dem Unfall nicht selbst? Wie begründet er seinen Antrag auf die Exhumierung der Leiche bei den Justizbehörden? Exhumierung ist nach der Scharīʿa haram, verboten, ebenso nach den islamischen Gesetzen des Iran und nur unter bestimmten schwierigen Bedingungen zulässig.

Szenenfoto (Eine moralische Entscheidung): Der Familienvater begeht Mord!
Szenenfoto (Eine moralische Entscheidung): Der Familienvater begeht Mord!

 
Gibt Nariman damit zu, dass er der Unfallverursacher war? Warum wird er dann nicht als Verdächtiger verhört und aus dem Verkehr gezogen? Warum taucht er in der nächsten Szene als offizieller Vertreter bei der Exhumierung auf? Warum kann er wider alle Gesetze und Vorschriften den Schichtplan der Rechtsmedizin ändern und selbst ohne Begleitung die zweite Obduktion führen, als ob es ein normaler Fall wäre? Warum verschwindet Dr. Sayeh Behbahani, die die ganze Zeit auf der Korrektheit ihrer Diagnose beharrt und keinen Grund zur Durchführung der zweiten Autopsie gesehen hatte, nach der Exhumierung von der Bildfläche und zeigt kein Interesse mehr an dem Ergebnis? Und so weiter …

Dramatische Entscheidungen

„Eine moralische Entscheidung‟ ist der zweite Spielfilm des 43-jährigen Filmemachers Vahid Jalilvand, zu dem er gemeinsam mit Ali Zarnegar auch das Drehbuch verfasst hat. Anscheinend geht es den Autoren nur darum, die alte Weisheit zu schildern, dass jede Entscheidung zu Konsequenzen führt, die sich immer dramatischer ausweiten können. Diese Konsequenzen auch glaubhaft zu erzählen, ist jedoch offensichtlich zweitrangig. Nur wenn man sich auf diese dramaturgisch wackelige Konstruktion einlässt und in die von ihnen konstruierte Welt mit ihren eigenen Werten und Gesetzen eintaucht, kann man den Film als Psychodrama mit „bodenständigen‟ und sozialkritischen Elementen à la Asghar Farhadi („Nader und Simin – Eine Trennung‟, „The Salesman‟) preisen. Das tut die Sektion „Orizzonti‟, deren Jury auch Rakhshan Bani Etemad, eine bekannte Regisseurin und Kollegin Jalilvands, angehörte.
Ausgezeichnet werden muss aber auf jeden Fall das glänzend besetzte und großartig spielende Ensemble des Films. Besonders die Schauspielerin Hediyeh Tehrani ist zu würdigen, die alle Nuancen ihrer Rolle als besorgte Lebensgefährtin, kompetente Rechtsmedizinerin und rücksichtsvolle Rivalin für Dr. Nariman hervorragend spielt. Schade nur, dass ihr Ton sich in der deutschen Version nicht wie im Original mitfühlend, aber bestimmt, sondern streng und verbittert anhört.♦

© Iran Journal

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