Wappnen für den Tag  danach – Ali Chamenei und der Krieg in der Ukraine

Der Ukrainekrieg verändert die geopolitische Weltkarte endgültig. Für den Tag danach will Ali Chamenei, der mächtigste Man Irans bestens gerüstet sein. Für die multipolare Welt der Zukunft hat er Pläne. Er ruft zu einer Art Mobilmachung für den Tag danach auf . Doch zunächst gilt es Putin zu unterstützen.  

Von Ali Sadrzadeh

Einmal im Jahr wird Tacheles geredet. An diesem Tag erlaubt Ali Chamenei, der mächtigste Mann des Iran, seinen Zuhörern, in seiner Anwesenheit offen die Missstände im Land zu kritisieren und ganz frei auch gleich mögliche Lösungen zu präsentieren.

Tage vor dem Ereignis geben die offiziellen Medien bekannt, wann diese besondere Audienz stattfinden und wem die Ehre der Teilnahme zuteil werden wird. Und wie immer fügen sie hinzu, unzensiert würden die Redner Mängel klar ansprechen und der weise Führer werde geduldig zuhören und anschließend in einer Ansprache alle Fragen beantworten.

Ein akademisches Flair

Es ist stets ein Abend in der zweiten Hälfte des Fastenmonats Ramadan. Geladen sind Vertreter der staatlich geduldeten Studentenvereinigungen sowie der Hochschulminister des Iran. Atmosphäre und Sprachniveau der Zusammenkunft sollen ein akademisches Flair ausstrahlen. Tatsächlich sind die Besonderheiten dieser Hofaudienz offensichtlich. Alle Redner, ausgenommen natürlich Chamenei, lesen von ihren Manuskripten ab. Ihre Vorträge sind thematisch unterschiedlich, und konzentriert versuchen sie, sich einer gehobenen Sprache zu bedienen, Gedichte und Koranverse inklusive. In den vergangenen Jahren gab es an diesem Tag Momente der Aufregung, weil manche Redner sich tatsächlich vorsichtig den roten Linien annäherten.

In diesem Jahr fiel der Tag auf 26. April. Auch diesmal sollen die geladenen Redner Vieles massiv kritisiert haben. Was die Studenten genau gesagt haben sollen, erfuhr man jedoch nicht. Dafür war Chameneis lange Antwort auf ihre Fragen gänzlich in allen offiziellen Medien zu lesen, und staatliche TV-Programme wiederholten seine Ansprache mehrmals. Wie in jedem Jahr redete er auch diesmal mehr grundsätzlich als propagandistisch, und zwar hauptsächlich über Außenpolitik.

Eine neue Weltordnung

Ausführlich nahm er sich die „mörderischen Feinde“ USA und Israel sowie das „geschundene“ Palästina vor, dann äußerte sich Chamenei kurz zum Krieg in der Ukraine, ohne allerdings das Wort Krieg explizit in den Mund zu nehmen: „Die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine müssen wir genauer betrachten. Eine neue Weltordnung ist im Entstehen begriffen, ein schwieriger, komplexer Prozess kündigt sich an. Wir werden eine multipolare Welt erleben. Und gerade in dieser neuen Ordnung müssen wir mit genügend Hard- und Software präsent sein, um nicht an den Rand gedrängt zu werden. Die Studenten und die gesamte akademische Umwelt müssen für die kommende Welt gewappnet ein, alles andere ist zweitrangig.“

Russlands Präsident Wladimir Putin besuchte 2015 Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei und schenkte ihm einen alten Koran
Russlands Präsident Wladimir Putin (li.) besuchte 2015 Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei und schenkte ihm einen alten Koran

Die Verwendung der Begriffe aus der Computersprache soll darauf hinweisen, dass wir uns in einer akademischen Veranstaltung befinden. Was Chamenei allerdings tatsächlich unter Soft- und Hardware versteht, wissen seine Zuhörer genau: effektive Propaganda für den politischen Islam schiitischer Prägung. Und noch viel wichtiger: kämpfende, motivierte Milizen, die bereit sind, für das Endziel hin zu einer göttlichen Ordnung alles zu geben.

Vorauseilender Gehorsam

Das ist noch Vision. Doch heute, wo mit dem Krieg in der Ukraine tatsächlich die geopolitische Karte der Welt neu entworfen wird, lässt Chamenei keine Zweifel daran aufkommen, wo die Islamische Republik stehen muss. Wenige Minuten nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am frühen Morgen des 24. Februar wachten die Iraner*innen mit folgender Meldung des staatlichen Fernsehens auf: „Als Antwort auf wiederholte Übergriffe der Ukraine erklärte heute Wladimir Putin, er habe den russischen Streitkräften den Befehl gegeben, mit Spezialoperationen im Donbass-Gebiet zu beginnen. Das russische Verteidigungsministerium weist Meldungen über Angriffe auf zivile Ziele zurück und betont, es werde lediglich militärische Infrastruktur zerstört. Offenbar will der Kreml die Ukraine, die nach Atomwaffen strebt, entwaffnen. Laut einer Erklärung des Moskauer Verteidigungsministeriums seien alle anderslautenden Nachrichten falsch. Für richtige Informationen wird auf Mitteilungen des Ministeriums hingewiesen.“

Nur 20 Prozent der Iraner*innen schauten Informationsprogramme des staatlichen Fernsehens, gestand vor zwei Wochen Peyman Jebelli, Funk und Fernsehchef. Die überwiegende Mehrheit schaut entweder persischsprachige Sendungen aus dem Ausland, informiert sich im Internet und den sozialen Netzwerken oder schaltet einfach ab. Kein Wunder, dass sich nicht alle an diese Sprachregelung hielten. Obwohl Levan Dzhagaryan, Russlands Botschafter in Teheran, die iranischen Medien am 10. März aufforderte, im Zusammenhang mit der Ukraine nur das Wort Spezialoperation zu benutzen, tauchen die Worte Krieg, Invasion und russischer Überfall trotzdem auf vielen Webseiten auf.

Seither ist die Verwendung der russischen Sprachregel wie ein Maßstab, mit dem man die Entfernung eines Mediums zum harten Kern der Macht im Iran messen kann. Fast alle offiziellen Medien lesen sich wie Propagandaschriften der russischen Armee. Eine Woche nach Kriegsbeginn zeigte ein Reporter des staatlichen Fernsehens zerstörte Häuser in der Stadt Cherson in der Süd-Ukraine mit dem Kommentar, ukrainische Soldaten wollten mit diesen Zerstörungen die russische Armee in Verruf bringen. Es nützte trotzdem nichts.

„Ich mache mir große Sorgen um die iranische Öffentlichkeit, die ganz anders denkt als ihre Regierung“, sagte der russische Botschafter deshalb am 13. April einem iranischen Reporter in einem langen Interview. Dzhagaryan muss genau wissen, wie die iranische Bevölkerung tickt. Er ist Armenier und beherrscht das Persische sehr gut, seit 20 Jahren vertritt er Russland im Iran und in Afghanistan.

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