Der Iran und die Taliban

So weit, so klar

Man könnte also sagen, im Iran laufe alles normal und unspektakulär. Wenn sich sogar die USA und der Rest der Welt mit einer baldigen Machtübernahme der Taliban abgefunden hätten, warum sollte es im Iran, dem wichtigen Nachbarland Afghanistans, anders sein? Es sei doch logisch und nachvollziehbar, dass sich die Islamische Republik ebenfalls auf eine baldige und wohl unabänderliche Machtverschiebung im Nachbarland vorbereite. Und wenn Zarif Kommandeure der Taliban in seinem Amtszimmer empfange, gehöre das ebenfalls zu dieser Normalität.

Das wahre Gesicht

Doch diese Normalität ist sehr facettenreich. Ihr prägendes, fast alles bestimmendes Gesicht sind die Revolutionsgarden. Und die rechnen offenbar nicht mit einer schnellen Machtübernahme der Taliban, im Gegenteil. Dem Nachbarland stehe ein langer und blutiger Bürgerkrieg bevor, den der Iran unbedingt mitbestimmen müsse.  Diese Einschätzung muss man ernst nehmen.

Denn es sind die Revolutionsgarden, die das Regiment im Iran führen, innen- wie außenpolitisch. Im afghanischen Bürgerkrieg waren sie von Anfang an präsent, schon in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Einmarsch der Sowjetunion. Das afghanische Schlachtfeld war ihre Grundschule: Dort machten sie ihre ersten Schritte in ihrem ersten weltbewegenden Stellvertreterkrieg.

Heute, fast dreißig Jahre später, sind die Revolutionsgarden in den syrischen, irakischen, libanesischen und jemenitischen Bürgerkriegen zu einem Hauptakteur herangewachsen. Deshalb erlangte Qassem Soleymani, der im Januar 2020 vom US-Militär ermordete Kommandeur dieser Auslandseinsätze, zweifelhaften Weltruhm. Soleymani wurde auch posthum zu einer Legende aufgebaut und viele meinten, nach ihm würde auch seine sogenannte Quds-Brigade an Einfluss verlieren. Zumal sein Nachfolger Ismail Qaani ein weitgehend unbekannter farbloser Gardist ist, der es nie schaffte, aus dem Schatten des omnipräsenten Soleymani herauszutreten, obwohl Qaani zu den Gründern der Quds-Brigade gehört.

Übungsplatz der Fatemiyoun-Brigade im Iran
Übungsplatz der Fatemiyoun-Brigade im Iran

Die Stunde des Unterschätzten

Mit der neuen Tragödie im Nachbarland Afghanistan schlägt nun die Stunde des Unterschätzten. Und Qaani weiß, was zu tun ist. Denn Afghanistan war immer sein Steckenpferd. Seit seinem 20. Lebensjahr ist der heute 63-Jährige bei den Revolutionsgarden, und während dieser Zeit mischte er wie ein Warlord im afghanischen Bürgerkrieg mit.

Qaani stammt aus Maschhad, der Hauptstadt der Provinz Khorasan, die an Afghanistan grenzt. Hier ist der erste Hotspot der afghanischen Flüchtlinge, die sich gen Westen auf den Weg machen. Und hier gründete Qaani ein Militärcamp für die Geflüchteten, die dann in den 1980er Jahren im Iran-Irak-Krieg, in den 90er Jahren gegen die Taliban und im neuen Jahrhundert in Syrien und im Irak eingesetzt wurden. Rekrutiert wurden diese Kämpfer unter schiitischen Afghanen. Neben religiösen Motiven gab es auch irdische Anreize wie legalen Aufenthalt im Iran, kostenlose Schulbildung für die Kinder, Krankenversicherung sowie ein ansehnlicher Sold und besserer sozialer Status nach der Rückkehr.

Eine Armee der Flüchtlinge

Das Reservoir für diese Rekrutierung ist groß. Denn rund 3 Millionen afghanische Flüchtlinge führen im Iran ein prekäres Dasein zwischen extremer wirtschaftlicher Not und einer harten fremdenfeindlichen Diskriminierung – was solche Anreize äußerst attraktiv macht. Qaanis Armee der Flüchtlinge trägt den Namen „Fatemiyoun“, ihr Stärke schätzen manche Experten heute auf 20.000, die auf den Schlachtfeldern der regionalen Bürgerkriege gekämpft haben und von denen viele inzwischen nach Afghanistan zurückgekehrt sind.

Die Taliban mögen Feinde Amerikas sein, aber manchmal sei der Feind des Feindes ein noch größerer Feind, schrieb Javan eine Woche, nachdem die Taliban Islam Qala, den Grenzposten zum Iran, eingenommen hatten. Javan ist die wichtigste Webseite der Revolutionsgarden, die die Tagespolitik für Eingeweihte erläutert.

Am 19. Juli meldeten die iranischen Zeitungen die Gründung einer afghanischen Brigade namens Hashd al Shii (حشدالشیعی  – die Masse der Schiiten). Das arabische Wort حشد – hashd – bedeutet Menge, Masse. Es kommt darauf an, womit es kombiniert wird. Im Irak heißen sie حشد الشعبی – Masse des Volkes.♦

© Iran Journal

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