Khameneis Kampf gegen das soziale Erdbeben
Die sozialen Netzwerke und die unbezähmbare junge Generation des Iran: Wie bringt man sie unter Kontrolle? Die Cyberpolizei der Revolutionsgarden schafft es allein jedenfalls nicht. Irans geistlicher Führer Ayatollah Ali Khamenei sieht den gesamten Staat gefordert und erklärt dies zur Hauptaufgabe Aller. Sonst sei die Islamische Republik in Gefahr.
Entweder „social engineering“ oder ein fürchterliches Erdbeben, das alles zerstört. Dieser Satz, der sich nach einer Wahl zwischen Pest und Cholera anhört, ist selbst ein Erdbeben. Und das in vielerlei Hinsicht, denn er stammt vom iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei.
Es ist ein überaus lehrreicher Satz, der vieles offenbart. Er räumt herkömmliche Vorurteile beiseite. Der Geistliche an der Spitze des Gottesstaates ist also up to date. Er ist sich bewusst, dass die moderne Sozialwissenschaft ihm Methoden und Techniken für eine effektive Machtausübung bereitstellt. Und er scheut sich nicht, diese beim Namen zu nennen – allerdings nur im Kreis der Vertrauten. In öffentlichen Ansprachen bleibt Khamenei bei seiner alten Linie und fordert weiter die Verbannung der „westlichen Sozialwissenschaften“ von iranischen Universitäten. Sein Satz ist damit ein Eingeständnis der Heftigkeit dessen, was sich unter der Haut der iranischen Gesellschaft abspielt.
Der Innenminister als Mann der Stunde
Es ist Samstag, 5. Juni, 9 Uhr. Das neu gewählte iranische Parlament ist zu seiner ersten Arbeitssitzung zusammengetreten. Ali Larijani, der alte und neue Präsident des Hauses, ruft den iranischen Innenminister Rahmani Fazli zum Rednerpult. Warum an diesem Tag und in dieser Stunde gerade der Innenminister die Bühne betritt und nicht Regierungschef Hassan Rouhani selbst oder der für das Atomabkommen zuständige Außenminister Javad Zarif, wird am Ende des Ministerauftritts verständlich.
Fazli steht als eine Art unbestrittene Autorität über allen Fraktionen des Hauses. Der 58-Jährige war ursprünglich nicht Rouhanis Kandidat für das Innenministeramt. Das wissen alle Anwesenden. Aber ohne seine Ernennung hätte Revolutionsführer Khamenei das gesamte Kabinett abgelehnt. Fazli gilt als wichtiges Bindeglied zwischen Rouhani und Khamenei, sagt der Politologe Ziba Kalam von der Universität Teheran.
Beim Ausbruch der Revolution im Iran war Fazli gerade zwanzig Jahre alt und von der ersten Stunde an in fast allen Machtorganen der Islamischen Republik präsent. Stolz zählt seine Webseite seine bisherigen Posten auf: Chef der Drogenbekämpfungsbrigade, Präsident des Rechnungshofs, Leiter des nationalen Sicherheitsrates und des Roten Halbmonds. Und das sind nur die wichtigsten Positionen: Nebenbei will Fazli in dieser Zeit auch akademisch Karriere gemacht und ein Universitätsdiplom in Humangeographie erworben haben. Als Innenminister führt er qua Amt auch die Sicherheitskräfte.
Khamenei bündelt die Kräfte
An diesem Samstag trägt Fazli dem neuen Parlament einen Bericht mit dem Titel „Soziale Situation in der Islamischen Republik“ vor. Es ist eine Art Regierungserklärung, sehr sachlich, gespickt mit Zahlen und Daten, ohne revolutionäres Pathos. Er will den neuen Abgeordneten sagen, wo die Prioritäten liegen, worauf es in dieser Legislaturperiode ankommt. Um die Brisanz seines Vortrags zu betonen, plaudert er zunächst aus dem Nähkästchen der höchsten Etage der Macht. Revolutionsführer Khamenei habe innerhalb kurzer Zeit dreimal die Chefs aller drei Staatsgewalten zu sich gerufen und bis zu drei Stunden mit ihnen über die soziale Lage diskutiert. „Mehrmals hat der geliebte Führer betont: Entweder schaffen wir ‚Social Engineering‘, oder es kommt zu einem katastrophalen Erdbeben, das uns alle in den Abgrund reißt“, erklärt der Minister. Dann präsentiert er in aller Offenheit ein Bild der iranischen Gesellschaft, das jeden erschaudern lässt.
Die nackte Wahrheit
Elf Millionen IranerInnen lebten in Slums, in manchen Provinzen liege die Arbeitslosenquote bei 60 Prozent, von 80 Millionen IranerInnenn seien 5,5 Millionen drogenabhängig, jährlich landeten 600.000 Menschen in Gefängnissen, 200.000 blieben längere Zeit dort. 60 Prozent dieser Inhaftierten hätten mit Rauschgift zu tun, auch bei der Hälfte der kontinuierlich steigenden Zahl von Scheidungen seien Drogen im Spiel. Hier hört der Minister auf, weitere schreckliche Fakten aufzuzählen. Er steigt auch nicht in Einzelheiten dieses Horrorbilds ein, nennt weder Konsequenzen noch Gründe dafür, warum die Islamische Republik, die einst Vorbild aller Gesellschaften sein wollte, nach 37 Jahren hier angelangt ist. Das ist offenbar nicht sein Thema: Das Schreckensbild war nur ein Vorspiel, er will ein anderes Fass aufmachen.
Werben für „social engineering“
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