Khameneis Kampf gegen das soziale Erdbeben

Angesicht dieser Lage beginne das soziale Vertrauen zu schwinden, bemerkt der Minister, und fügt hinzu, soziale Medien spielten bei diesem Vertrauensverlust die Rolle des Brandbeschleunigers. Deshalb fordere der geliebte Führer wiederholt „social engineering“.
Hier ist der Minister endlich bei seinem eigentlichen Thema angekommen. Und spätestens hier begreift man, dass Khamenei keineswegs so hinterwäldlerisch ist, wie manche seiner Kritiker behaupten. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, ihm schwebe eine sehr neuzeitliche Machtausübung vor, so wolle er genau nach Methoden vorgehen, die Wikipedia so definiert: „Unter social engineering werden heute im weitesten Sinne alle Formen staatlichen und nichtstaatlichen Handelns verstanden, mit denen gesellschaftliches Zusammenleben geregelt und gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang gesetzt oder blockiert werden. Der Begriff unterstellt ein wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehendes, zweckorientiertes und eher technokratisches Vorgehen der jeweiligen Akteure.“
Der ganze Staat gegen das Internet
Deshalb die Plauderei des Ministers aus dem Nähkästchen. Deshalb wurden die Chefs aller Gewalten zum mächtigsten Mann zitiert und von ihm ausdrücklich in die Pflicht genommen, ihre Möglichkeiten für „mohandessi edjtemaii“ („social engineering“) einzusetzen, sagt Fazli, der in seinem Ministerium dafür bereits eine Koordinierungsgruppe eingerichtet hat.
Ab hier widmet der Minister den Hauptteil seiner Rede den sozialen Medien im Iran, den Aktivitäten der Jugend dort, ihrer „destruktiven Rolle“ in der islamischen Gesellschaft und ihrer Unkontrollierbarkeit. Die Misere des Landes erscheine in diesen Medien wie unter einem Brennglas, die Schwarzmalerei habe überhand genommen, die „kulturelle Invasion“ sei durch diese Medien in jede Ecke der Gesellschaft eingesickert, Generationsgräben würden tiefer, die Scheidungsrate steige.
Je mehr Fazli darüber referiert, welche Schäden soziale Medien anrichteten, umso deutlicher wird, worum es ihm geht. Nämlich um eine ganz besondere Art des „social engineering“: um Hacking, Phishing und Abwehr – dem, was Wikipedia unter „social engineering Sicherheit“ versteht: Für die Kontrolle der virtuellen Welt sei der gesamte Staat gefordert, das will der Revolutionsführer über seinen Innenminister auch den Abgeordneten klar machen. Die iranische Cyberpolizei, die seit 2009 unter dem Kommando der Revolutionsgarden im Einsatz ist, ist damit anscheinend überfordert. Um des „virtuellen Tsunamis“ Herr zu werden, müsse man alle Kräfte bündeln, alles andere sei zweitrangig, so der Minister am Ende seiner Rede
Ende der bisherigen Konflikte?

Internetcafe in Teheran. Foto: barsam.ir
„Diese Jugend wird uns erziehen und nicht umgekehrt!“

Und an diese Maxime halten sich alle, zumindest noch. Die fundamentalen Gegensätze der Machtfraktionen scheinen verschwunden zu sein. Es herrscht ein gewisser Konsens: im Parlament ebenso wie zwischen Rouhani und dem Revolutionsführer, auch in den reformorientierten Zeitungen und den radikalen Medien, die derzeit nur punktuell Kritik an Rouhani üben. Wochenlang ging es ihnen lediglich um überhöhte Gehälter für Minister, Rouhani versprach eine Überprüfung, der Streit scheint zunächst vorüber. Denn es gibt andere Prioritäten.
Nicht nur der Innenminister gesteht ein, dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Iran bedrückend sind. Auch Freitagsprediger klagen wöchentlich über Arbeits- und Obdachlosigkeit, Drogensucht und die „kulturelle Entfremdung“ der Jugend.
Die Jugend wird uns erziehen“
Am Abend jenes Tages, an dem der Innenminister im Parlament über die soziale Lage im Iran spricht, veranstalteten Oberschüler in drei iranischen Städten Schulabschlussfeiern – Musik und Alkohol inklusive. Tags darauf berichteten Zeitungen, dass in allen dieser Städte 20 bis 30 dieser Jugendlichen zu Peitschenhieben verurteilt worden seien. Die Strafen wurden sofort vollstreckt. Diese Städte – Kerman, Qazwin und Karadj – liegen bis zu 1.000 Kilometer voneinander entfernt. Von den drakonischen Strafen erfuhr man durch Instagram, Facebook und anderen sozialen Diensten, die zu einem unverzichtbaren Teil des Alltags fast aller IranerInnen geworden sind.
Wie diese Dienste jenen befürchteten Tsunami auslösen können, erfuhr man einen Tag nach dem Ministerauftritt im Parlament. Absolventen der neunten Klasse eines Stadtteils in Nordteheran hatten sich über soziale Netzwerke in dem schicken Einkaufszentrum Kyros verabredet – ebenfalls eine Abschlussfeier. Was dann geschah, war reines Chaos. Das Einkaufzentrum wurde geschlossen, der Verkehr in ganz Nordteheran lahmgelegt, fast die gesamte Polizei der Hauptstadt befand sich im Alarmzustand.
Am nächsten Tag war die Geschichte auf der ersten Seite aller Zeitungen der Hauptstadt. Ein Soziologe kommentierte in der Tageszeitung Etemad: ‚Social engineering‘ hin, Kontrolle her, das Land habe mit einer Generation C zu tun. Sie sei ständig in den sozialen Netzwerke unterwegs und habe ihre eigene Welt. Die Schritte, mit denen sie sich von den eigenen Eltern und Großeltern entferne, seien nicht arithmetisch zu bemessen, nicht geometrisch, sondern exponentiell: „Diese Jugend wird uns erziehen und nicht umgekehrt.“
  ALI SADRZADEH
Quellen:
iran-emrooz.net/indexradiofarda.com , radiofarda.com/content , enghelabe-eslami.com , radiofarda.com/content/f9 , radiofarda.com/content/f16 ,
radiozamaneh.comradiofarda.com/content/f3 , www.iran-emrooz.net , news.gooya.com , radiofarda.com , khabaronline.irde.wikipedia.org