„Wir sind schlimmer als die Taliban“
Die in Teheran lebende Journalistin Azam Mohebbi berichtete für die iranische Zeitung Shargh über die Flucht von Iraner*innen und Afghan*innen über das Grenzgebiet in die Türkei. Am 25. August wurden sie und ihr Fotograf Majid Saidi von iranischen Sicherheitsbehörden verhaftet und nach neun Tagen freigelassen. Danach schrieb Mohebbi keine Berichte mehr. Das Iran Journal veröffentlicht einen ihrer beeindruckenden Berichte.
Das Auto mit seinen schweigenden Insassen schlich durch die dunkle Straße. Ich war besorgt um meine Mitreisenden, aber sicher weniger besorgt als das afghanische Mädchen neben mir. Es gehörte zu einer Gruppe von Geflüchteten, die ich in Richtung der iranisch-türkischen Grenze begleitete. Angst und Sorge musste das Mädchen jedoch bis zur türkischen Stadt Van ertragen – vorausgesetzt, dass sie nicht vorher von der türkischen Grenzpolizei erwischt werden würde. Dann würde sie geschlagen und in den Iran abgeschoben werden, sagten die Geflüchteten.
Mit drei anderen Frauen saß ich auf der Rückbank eines Peugeots. Unterwegs sah ich weitere Fahrzeuge, die Asylsuchende aus den Unterkünften der Schmuggler an die Grenze beförderten.
Seit Jahren verlassen Menschen verschiedener Nationalitäten an einem bestimmten Punkt im Nordwesten des Iran das Land, um über die Türkei nach Europa zu gelangen. Als ich zur Berichterstattung dahin fuhr, wurde mir erzählt, dass vier Kleinstädte und etwa 40 Grenzdörfer in der iranischen Provinz West-Aserbaidschan etwa so viele durchreisende Asylsuchende wie Einwohner*innen beherbergen. Sie würden innerhalb von zwei Tagen die Grenze passieren, werde ihnen gesagt. Nach Angaben der Einheimischen werden allerdings etwa 30 Prozent der Geflüchteten von der türkischen Grenzkontrolle verhaftet und zurückgeführt. Zugleich kommen neue hinzu. Somit verharrten an dem Tag Tausende Geflüchteter in dieser Gegend – untergebracht in Kellern, Ställen oder auf den Sonnenblumenfeldern.
Tausende Asylsuchende kommen in der Coronazeit täglich aus verschiedenen Regionen im Iran hierhin, und die meisten von ihnen tragen keinen Mundnasenschutz.
Von Schmuggler zu Schmuggler weitergereicht
Der Transport der Menschen erfolgt durch drei „Hauptschmuggler“, die sich in ihrem Ursprungsland, dem Iran und der Türkei befinden. Niemand kennt sie persönlich. Hinzu kommen sechs bis sieben „Zwischenschmuggler“, die die Geflüchteten in verschiedenen Etappen bis zur türkischen Stadt Van begleiten.
Die Begegnung der Geflüchteten mit dem Hauptschmuggler oder seinem Handlanger findet im Herkunftsland statt. Gleich da wird ein Teil des Geldes bezahlt – am Zielort der Rest. Sollte die Reise aus irgendwelchen Gründen, einschließlich Grenzschließung, länger als vorgesehen dauern, werden die zusätzlichen Kosten für Unterkunft und Verpflegung separat berechnet.
Sipan ist einer der Zwischenschmuggler. Viele Jugendliche aus dieser unterentwickelten Region arbeiteten aufgrund mangelnder Jobs mit den Hauptschmugglern zusammen, erzählt er mir.
Auf einem Sonnenblumenfeld treffe ich Hassan. Der 30-Jährige kommt in einem teuren SUV an. Das erste, was mir ins Auge fällt, sind seine goldenen Ringe und Halsketten. Er habe einen Master im Fach Management, aber noch nie in diesem Bereich gearbeitet, sagt er.
Hassan holt seine „Passagiere“ bei einem Zwischenschmuggler in Teheran ab und bringt sie in ein Grenzdorf im Nordwesten des Landes. Er bringt sie in den regionalen Übergangsunterkünften unter, bevor er sie am nächsten Tag an einen anderen Zwischenschmuggler weitergibt – meistens einen Dorfbewohner, der die „Passagiere“ über die Grenze führt. Er kenne die Transportkette nicht, betont Hassan – er kenne nicht einmal den Zwischenschmuggler, der die Geflüchteten aus ihrem Herkunftsland nach Teheran gebracht hat. Vor seiner Tätigkeit als Menschenschmuggler habe er in Teheran als Taxifahrer gearbeitet, antwortet er auf meine Frage.
Brutale Misshandlung durch türkische Grenzbeamten
In der kleinen Stadt Yolageldi, bekannt als Wohnheim der Afghanen, besuche ich acht afghanische Flüchtlinge in einer Unterkunft. Eine Frau und zwei Kinder sind auch dabei. Sie alle sitzen still in einem Raum. Sie seien in der Türkei festgenommen und schwer geschlagen worden, auch die Kinder, berichten sie. Erstaunlich ist die Geschichte eines 25-jährigen Afghanen, den ich in einer anderen Unterkunft besuche. „Wir sind schlimmer als die Taliban, also kehrt in euer Land zurück“, habe ihm ein türkischer Polizist auf Persisch gesagt. Ein anderer junger Afghane mit bandagiertem Kopf und verwundetem Gesicht erzählt mir, dass die türkische Grenzpolizei ihn und die Gruppe mit Benzin übergossen und gedroht habe, sie anzuzünden.
„Ich kann nicht zurück, weil die Taliban mich definitiv töten werden“, sagt ein früherer Polizist aus der afghanischen Stadt Herat. Er kann nicht verstehen, warum er noch brutaler misshandelt wurde, als die türkischen Beamten herausfanden, dass er ein „Kollege“ war.
Alle Geflüchteten, mit denen ich sprechen konnte, erzählen mehr oder weniger die gleiche Geschichte: Sie sollten für 25 bis 30 Millionen Tuman (etwa 750 bis 900 Euro) aus Afghanistan oder Pakistan nach Van gebracht werden. Und von dort für noch mehr Geld nach Europa.
Die türkische Grenzpolizei zerstöre auch ihre Handys, erzählen sie mir. Danach verbrenne sie ihr iranisches Geld und zwinge sie, die türkische Währung, Lira, zu schlucken. Ich stelle fest, dass das Herkunftsland der Geflüchteten dabei keine Rolle spielt.
Einsammeln, unterbringen und medizinische Behandlung zurückgeführter Asylsuchende gehört mittlerweile zum Alltag der Grenzdorfbewohner*innen. Ein junger Mann, der früher als Lastenträger Waren über die Grenze geschmuggelt hat und einmal dabei angeschossen wurde, erzählte mir von einem Wintertag, an dem er eine Gruppe von nackten Geflüchteten in den schneebedeckten Bergen gefunden und ins Dorf gebracht hat. Frauen aus dem Dorf hätten einmal nackte Flüchtlingsfrauen gefunden und sie mit Decken und Laken zugedeckt und nach Hause gebracht.
„Die Flüchtlingsräuber“
Das ist allerdings noch nicht die ganze Tragödie. Tragischer ist die Situation derer, die von der türkischen Grenzpolizei erwischt und abgeschoben werden und danach in die Hände der so genannten Flüchtlingsräuber geraten. Diese von den Bewohnern der Gegend als „Diebe“ bezeichneten Gewalttäter entführen die Geflüchteten und foltern sie vor laufender Kamera. Die Filme schicken sie dann an die Familien ihrer Opfer, um Lösegeld zu erpressen.
Viele der Flüchtlingsräuber wurden von Einheimischen identifiziert und von der iranischen Polizei festgenommen. Es tauchen aber trotzdem immer wieder neue Videos in den sozialen Netzwerken auf.
Ich höre von den Dorfbewohner*innen und Schmugglern, dass viele Geflüchtete auch auf dem Weg zur Grenze ums Leben kommen. Sie geraten in eine Lawine, erleiden einen Herzstillstand oder stürzen von den Klippen.
Wir steigen aus dem Auto. Wir müssen eine Strecke zurücklegen und zwischen ein paar Bäumen auf den Zwischenschmuggler warten. Als wir unter einem Walnussbaum stehen bleiben, stelle ich fest, dass eine der Afghaninnen schwanger ist. Der Schmuggler kommt an, wir brechen wortlos in Richtung der iranisch-türkischen Grenze auf. Am Fuße eines Berges bleibe ich stehen. Für mich endet hier die Reise. Die anderen klettern den Berg hinauf. Ich schaue die schwangere Frau an und wünsche mir, dass sie nicht zurückkehrt.♦
Azam Mohebbi
Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von Iman Aslani.
Der Originalbericht finden Sie hier!
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