Absonderliche Menschen

So schildert die geschiedene, drogensüchtige Englischlehrerin in der Erzählung „Ich mische mich unters gemeine Volk“, die ein Sommerhaus in einer öden Kleinstadt besitzt, die Bewohner*innen ihres zweiten Zuhauses verachtungsvoll so: „Mir war lieber, die Bewohner Alnas als Teil der Szenerie anzusehen. Wilde Teenies, hinkende Männer, blutjunge Mütter, Kinder, die auf dem heißen Beton herumwuselten wie Tauben oder die trägen Ratten im Ort.“

Die Lehrerin fühlt sich aber in dieser „Szene“ sehr wohl, besonders am verkommenen Bahnhof der Stadt, wo sie ihre Drogen kaufen kann. Sie ist keine sympathische Protagonistin, wie auch fast alle anderen Antiheldinnen und Antihelden des Erzählbandes. Versunken in egozentrischen Gedanken über ihren Crack-Konsum lässt sie ein hochschwangeres Mädchen, das in Geldnot ist, ihr Haus putzen, hilft ihm aber nicht, als sie merkt, dass es ihm nicht gut geht. „Als ihre Oberschenkel sichtbar wurden, sah ich einen schwarzen Blutfleck zwischen ihren Beinen. Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass sie blutete. Über den Berg ihres Bauchs konnte sie unmöglich hinübersehen.“

Sie lässt das Mädchen weiterarbeiten, bis ihm schwindlig wird und es an der Schwelle der Haustür hinfällt. Die Lehrerin bleibt weiterhin ungerührt und tatenlos. Zwei Nachbarinnen, die sich in der Nähe unterhalten, bekommen das mit. „Eine ging nach drinnen, um Hilfe zu rufen. Ich ging zurück ins Haus, holte die Flugblätter des Mädchens und zwanzig Dollar aus meinem Portemonnaie. Als ich wieder nach draußen kam, schnappte das Mädchen nach Luft. Ich händigte ihm das Geld aus, und es packte mich am Arm, verschmierte ihn mit seinem Blut, drückte ihn, schrie wie verrückt und verzog vor Schmerzen das Gesicht.“ Die Lehrerin reagiert freilich noch immer abgestumpft.

Interview mit Ottessa Moshfegh (auf Egnlisch):

Verwerfliche Gefühlsexplosionen

In Moshfeghs Erzählungen kommen die Emotionen erst dann hoch, wenn sie negativ, verletzend und zerstörend sind. Oft ist das Opfer dieser verwerflichen Gefühlsexplosionen das „schwache“ Geschlecht oder ein schwaches Glied der Gesellschaft wie der männliche Prostituierte vom Karibikstrand in der Erzählung „Der Beach Boy“. In dieser psychologisch meisterhaft geschilderten Story steht der Racheplan eines betrogenen Witwers im Mittelpunkt, ein Befreiungsakt seiner lebenslang gequälten Seele, nachdem er ein Foto von seiner Frau mit einem männlichen Prostituierten in ihrem letzten gemeinsamen Urlaub entdeckt: „Sein Plan war, den Jungen aus Marcias Foto zu finden und das mit ihm zu machen, was sie mit ihm in den Dünen getrieben hatte, während er im Bett lag und schlief. Das wäre die Rache, die sein Herz zur Ruhe kommen lassen würde.“ Kann er seinen Plan umsetzen?

Ottessa Moshfegh kann den Leser wunderbar an der langen Leine halten und trostlose Stimmung verbreiten – gepaart mit schwarzem Humor. Mit ihren scharfen Beobachtungen schildert sie schonungslos menschliche Abgründe, ohne ihre Figuren zu verurteilen; nicht nur in der Story „Der Beach Boy“, sondern auch in ihren anderen Werken, die bisher auf Deutsch erschienen sind: Da spielt keine Rolle, ob die Figur ein alkoholabhängiger Seemann in „McGlue“ ist, oder die Monsterfrau inEileen“ oder die namenlose Erzählerin in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“. McGlue stellt voller Selbstekel dar, wie er jemanden im Suff getötet haben soll. Eileen ist eine junge Frau, die mit ihrem Alkoholiker-Vater zusammenwohnt, im Gefängnis arbeitet und sich nicht wäscht, weil sie ihren Gestank mag. In dem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ tauchen ebenfalls sorgfältig komponierte Ansammlungen der absonderlichsten Menschen auf. Solche Figuren trifft man in den Diaspora-Storys kaum.♦  

  FAHIMEH FARSAIE

Ottessa Moshfegh: Heimweh nach einer anderen Welt. Storys. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind Verlag, München. 336 Seiten. 22 Euro.

Zur Startseite 

Diese Beiträge können Sie auch interessieren:

„Der standhafte Papagei“

Annäherung über dritte Sprachen 

Gratis Kebab essen und warten im Iran