Tropfen auf den Stein der Diktatur

Die Revolution von 1979 im Iran begann mit Parolen, die nachts an Wände geschrieben wurden. Heute schreiben wieder junge Protestler Parolen gegen das politische System und dessen Elite – und gestalten damit auch den Protest. Betrachtungen von Maziyar Roozbeh*.

Im März 1979 hatte sich die Teheraner Stadtverwaltung dazu entschieden, die Stadt zu säubern: von den Parolen der Revolution an den Wänden. Zugleich wurden im von den Revolutionären bereits eroberten Fernsehen Interviews gezeigt, in denen Menschen sagten: „Unsere Revolution hat gesiegt und sie wird fortbestehen. Die Parolen an den Wänden brauchen wir nicht mehr. „Alles wird in den Büchern stehen. Deshalb sollen die Wände sauber gemacht werden.“

Und jetzt, nach 42 Jahren? Die Einwohner*innen der kleinen und großen Städte im Iran nutzen wie damals Poesie und Prosa, um ihre Stimme an die Wände zu malen. Etwa die Zeilen des im Exil lebende Schriftsteller Reza Barahani: „Es ist ein Kampf Esmail, ein Kampf. Und die Esmails werden tatsächlich geschlachtet.“ Politische Aktivist*innen und Studierende haben dieses Gedicht häufig in ihren Graffitis, auf Plakaten und Flyern oder als Hashtag in den Sozialen Netzwerken benutzt, um ihre Solidarität mit dem Arbeiteraktivisten Esmail Bakhshi auszudrücken. Auch bei den landesweiten Protesten im Februar und November 2018 ließen sich die Demonstrierenden von farsisprachigen Dichtern, Schriftstellern und Musikern inspirieren.

Parole als Waffe

In den meisten revolutionären Aufständen und Bewegungen spielen Parolen neben anderen Kampfmitteln eine wichtige Rolle. Sie sind einzigartig, spontan und für alle verständlich.

Dabei gehört die Wiederholung zu ihrer Natur und Funktion. Parolen bohren Löcher in diktatorische Strukturen, wie winzige Wassertropfen, die sich durch einen Stein bohren können, wenn sie stets auf denselben Punkt fallen.

Etwa die Parole „ihr Reformer, ihr Hardliner, es ist vorbei“ oder die ironische Formulierung „Tod dem Arbeiter, lang lebe der Unterdrücker“: Vielleicht sind sie spontan durch die Kreativität eines einzelnen Demonstranten zustande gekommen. Sie wurden jedoch so oft wiederholt, dass sie sich quer durch alle gesellschaftlichen Schichten etabliert haben. Lange nach den Demonstrationen von 2018 wurden diese Parolen noch an die Wände geschrieben.

Später wurden auch Geldscheine zum Verbreitungsmedium von Parolen. Auf sie wurde etwa „Referendum! Referendum! Das ist die Parole der Bevölkerung“ oder „Aus dem Islam habt ihr für euch eine Leiter gebaut und der Bevölkerung ein Mittel zur Erniedrigung“ geschrieben. Diese winzigen Wassertropfen haben in der Bevölkerung große Löcher in der Glaubwürdigkeit des Regimes hinterlassen.

Graffiti in Teheran - für den internationalen Frauentag
Graffiti in Teheran – für den internationalen Frauentag

Songwriter und Musiker wiederum haben sich von der Kreativität der Protestierenden inspirieren lassen. Unter anderem hat der im Exil lebende Sänger und Songwriter Mohsen Namjoo kurz nach den Unruhen vom November 2019 das Lied „Erinnere Dich“ gesungen. Das Lied eines iranischen Dichters zeichnet nostalgische Bilder und wirft gleichzeitig einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft: „An dem Tag, an dem Du lachend Leben, Leben, Leben rufst/an dem Tag, an dem wir gewonnen haben, wird in den Straßen gefeiert“.

Vor Namjoo hatte der berühmte iranische Rapper Soroush Lashkari den Song „Er hat seine Hand zur Faust geballt“ geschrieben und gesungen. Der als „Hichkas“ (Niemand) bekannte Künstler schlug dabei einen traurigen Ton an und ignorierte bewusst den üblichen Rhythmus des Rap – als ob er die Tür zur harten und bitteren Welt der Wahrheit passieren möchte. In dem Song wird an die Nachrichten aus der Zeit der Unruhen vom November erinnert – etwa Meldungen über die weit verbreitete Korruption in der Islamischen Republik und die brutale Ermordung von Protestierenden durch Sicherheitskräfte. Auch wird die angebliche Dualität von „Reformern“ und „Hardlinern“ innerhalb des iranischen Regimes verspottet und in Frage gestellt – der Künstler zeigt mit dem Finger des Songs auf den Feind der Bevölkerung.

Am Ende des Songs sind Stimmen von Demonstranten zu hören. Damit können sich besonders die Angehörigen der 1990er- und 2000er-Generation identifizieren: Sie sind es, die ihre Freunde bei den Unruhen des Januar 2018 und November 2019 verloren haben. Die Wirkung des Songs hat das farsisprachige Nachrichtenportal Radio Farda aus Prag zusammengefasst: „Am Dienstagabend, den 10. Dezember [2019] wurde der Song `Er hat seine Hand zur Faust geballt` von Hichkas auf Twitter veröffentlicht. Innerhalb einiger Tage wurde der Song mehr als 7.200 mal retweeted und knapp 24.000 mal mit `Gefällt mir` markiert. So eine Reaktion auf einen Tweet ist in der farsisprachigen Community sehr selten – wenn nicht beispiellos.“
Fortsetzung auf Seite 2