Wahre schiitische Herrschaft muss erblich sein

Einst war es nur ein Gerücht, dass Khameneis Sohn Mojtaba seinem Vater als neuer Revolutionsführer des Iran nachfolgen soll. Doch das Gerücht hat nun eine handfeste religiöse Begründung erhalten: von Khamenei selbst.

Von Ali Sadrzadeh

Was ist Zensur? Wer zensiert was, wen und warum? Kann, darf in einem autoritären Staat der mächtigste Mann des Landes von einem Untergebenen zensiert werden – zum Wohle des Staates, versteht sich? Die Kontrolle der Meinungsäußerung ist viel facettenreicher, als man denkt.

Audienz für Missionare aus der ganzen Welt

Am vergangenen Samstag gewährte Ayatollah Ali Khamenei (Chamenei), der religiöse Führer der Islamischen Republik, eine Audienz. Geladen waren Vertreter der schiitischen Missionen aus 118 Ländern von Neuseeland bis Südamerika: Funktionäre und Vorbeter jener Moscheen, Zentren und Hinterhöfe, die rund um den Globus für die schiitische Idee iranischer Prägung werben, gesponsert mit Petrodollars, gewappnet mit politisch-geistigem Rüstzeug. Sie sind Missionare der so genannten Zwölfer-Schia, einer Art monarchistischer Erbführerschaft, die vom Vater auf den Sohn übergeht.

Es begann mit Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed im Jahr 632, und endete 940 mit dem zwölften Imam, der in die „große Verborgenheit“ verschwand. Auf sein Wiedererscheinen warten seitdem die Schiiten, und bis dahin sind die Ayatollahs als „Quelle der Nachahmung“ seine Stellvertreter. Deshalb nennt sich dieser Zweig der Schiiten „Anhänger des Hauses“. – اهل البیت. Gemeint ist das Haus des Propheten und dessen Nachkommen.

Auch in der schiitischen Welt brodelt es

Die weltweiten „Anhänger des Hauses“ versammeln sich seit der iranischen Revolution vor 42 Jahren regelmäßig in Teheran. Nur Corona zwang sie zur Pause. Nach zwei Jahren kamen sie nun wieder und hatten bei ihrer dreitägigen Tagung viel zu besprechen. Denn auch in der Welt der Schiiten brodelt es. Im Nachbarland Irak etwa, mit einer schiitischen Mehrheit, ist dieser Tage ein blutiger Machtkampf zweier schiitischer Blöcke im Gang, der das ganze Land an den Rand eines Bürgerkriegs katapultiert hat.

Und auch im Iran, dem Mutterland der Schiiten, steht Schicksalhaftes bevor. Es geht um nicht weniger als um den Bestand der islamischen Republik mit ihren vielfältigen außen- und innenpolitischen Krisen und, noch wichtiger, um den Nachfolger Khameneis. Das ist ein omnipräsentes Thema, von dem Gegenwart und Zukunft des Landes, ja der schiitischen Welt abhängen.

Ali Khamenei und Vertreter der schiitischen Missionen aus 118 Ländern
Ali Khamenei (li.) und Vertreter der schiitischen Missionen aus 118 Ländern

Ein schiitisches Arrangement

Auch die Arrangeure der Audienz ließen sich offenbar von diesem Thema leiten und wählten es für die Gestaltung der Atmosphäre der gesamten Veranstaltung. Die Wände des Saals, in dem die vierhundert Missionare Khamenei lauschen sollen, sind mit Versen und Texten verziert, die auf die Führerschaft der schiitischen Gemeinde hinweisen. Khamenei selbst sitzt auf einem Podest, über seinem Kopf liest man in kunstvoll gestalteter Kalligraphie den folgenden Satz aus einer heiligen Überlieferung:  «نحن کلمة التقوی والمثل الاعلی والحجة العظمی والعروة الوثقی»: „Wir sind das Wort der Frömmigkeit, das höchste Vorbild, der absolute Beweis und die sichere Bindung.“

Dass das „Wir“ ein Pluralis Majestatis ist, versteht an diesem Samstagsvormittag jeder der Anwesenden, die gespannt auf Khameneis Ansprache warten.

Die Heiligkeit der Erbschaft

Und er beginnt diese wie immer zunächst mit einer langen Tirade gegen die westlichen Mächte, die seit vier Dekaden alles in Bewegung gesetzt hätten, um die islamische Republik zu beseitigen. Doch die Herrschaft dieser Republik sei viel mächtiger, als die Feinde es sich je vorstellen könnten. Denn diese Feinde seien nicht in der Lage, die Heiligkeit jener Linie und die Festigkeit jenes Erbes zu verstehen, die „unsere Herrschaft“ durchläuft, so Khamenei. Und dann zitiert er ein Gebet, das an die Imame gerichtet ist und das man so übersetzen könnte: „Grüße Dich, Du, das Erbe Abrahams, grüße Dich, Du, das Erbe Mose.“ „السلام علیک یا وارث ابراهیم خلیل‌اللّه، السلام علیک یا وارث موسی کلیم‌اللّه.“ Wen er grüßt, lässt sich nur ahnen. Dem Gruß folgt eine lange Exegese über die Seligkeit der erblichen Linie, die die Substanz des Schiitentums ausmache.

Die Zensoren und der oberste Führer
Fortsetzung auf Seite 2