Irans Zukunftsgestalter*innen

Das Veränderungspotenzial im Iran ist von den Fähigkeiten und Kämpfen der vier wichtigsten Kräfte im Land abhängig: Das sind erstens die Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach der Beschäftigungsstruktur im Iran die größte soziale Gruppe darstellen. Zweitens die Lehrer*innen, die aufgrund ihrer weitreichenden Vernetzung und ihres hohen Organisationsgrads die besten Voraussetzungen für soziale Präsenz und die Durchsetzung ihrer Forderungen haben. Drittens sind es die Frauen, die als Gesellschaftsmehrheit die größte nationale und internationale Unterstützung ihrer Forderungen und Interessen erfahren, und viertens Kräfte, die sich als reformistische Strömungen oder liberalisierte Persönlichkeiten vom politischen Corpus der Islamischen Republik entfernt haben und daher nicht mehr zu den loyalen Kräften des Regimes zählen. Sie könnten in der Zukunft gute Verbündete für die anderen drei Gruppen werden, zumal sie über wichtige Verbindungen in den Militär- und Sicherheitsapparat des Landes verfügen.

Wichtiger als die Anzahl von Kundgebungen und deren Teilnehmer*innen ist die berufliche und soziale Struktur letzterer. Irna gibt an, in den Jahren 2015 bis 2020 seien 57 Prozent der Proteste von Arbeiter*innen getragen worden – sie waren bedarfsorientiert und gewerkschaftlicher sowie politischer Natur. Dem folgten laut Irna die 717.000 Lehrerinnen und Lehrer der 110.000 Schulen des Landes. Angesichts der Zahl der Arbeitslosen im Iran von 5,5 bis 6 Millionen dürfte das Potenzial für Unruhen und Aufstände unter den Arbeiter*innen am größten sein. Trotz eines vergleichbar geringeren Anteils der Lehrer an den Beschäftigten hat ihr Berufszweig einen relativ guten Organisationsgrad. Arbeiter*innen haben eine geringere Möglichkeit, freie Gewerkschaften zu gründen.

Zur Entstehung der gewerkschaftlichen Führungseliten

Im Iran gibt es etwa 45 Lehrergewerkschaften, aktiv sind davon heute nur etwa 20 Organisationen. Jede Großstadt hat eine Lehrergewerkschaft mit einer eigenen Satzung. 2001 gründeten Organisationen aus mehreren Provinzen den Dachverband „Koordinierungsrat der iranischen Kulturschaffenden“, der keine Einzelpersonen und auch keine politischen Parteien als Mitglieder aufnimmt. Die Satzung des Koordinierungsrates wurde im Oktober 2019 auf der außerordentlichen Generalversammlung der Organisation verabschiedet.

Protest in Isfahan gegen Wasserknappheit, November 2021
Protest in Isfahan gegen Wasserknappheit, November 2021

Am 1. Mai 2002 trafen sich Hunderte aktive Werktätige in Teheran, um die Gründung freier Gewerkschaften vorzubereiten. In zwei Entschließungen erklärten sie: „Wir Arbeiter fordern die Aufhebung des Verbots gewerkschaftlicher Aktivitäten. .. Wir wollen die Anerkennung aller Gewerkschaftsrechte, die in der Allgemeinen Charta der Gewerkschaften und den internationalen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation verankert sind, die auch die Regierung der Islamischen Republik Iran unterzeichnet hat und verpflichtet ist, sich daran zu halten.“

In der zweiten Hälfte des Jahres 2004 gründeten Arbeiter-Vertretungen unter Berufung auf Artikel 26 der iranischen Verfassung und in Übereinstimmung mit der Charta 87 der Internationalen Arbeitsorganisation über das Recht, freie Gewerkschaften zu gründen, die “Gründerräte iranischer Gewerkschaften”. Am Ende eines langwierigen Prozesses entstand schließlich im Dezember 2006 die “Freie Gewerkschaft Irans“, deren Mitglieder befristete und unbefristete Vertragsarbeiter aus allen Sektoren des Dienstleistungssektors und der Industrie sowie entlassene und arbeitslose Arbeiter sind. Ziel der Dachorganisation ist es, ein menschenwürdiges Leben nach modernen Standards und Fortschritt für die Arbeiterklasse zu erreichen. Die Organisation versucht, die laufenden Arbeitskämpfe zu vereinen und die Forderungen der Arbeiter*innen zu erfüllen. Aus ihren Reihen gingen einige Führungspersönlichkeiten hervor, die auf nationaler Ebene hohes Ansehen genießen.

Bekannte Arbeiteraktivist*innen

Zwei der bekanntesten Aktivisten der Arbeiter*innenbewegung sind Ismael Bakhshi, prominenter Aktivist für Arbeiterrechte, und Sepideh Gholian, Journalistin und Aktivistin für Belange der Arbeiter. Bakhshi ist ein führender Vertreter der Arbeiter der Haft Tappeh Sugarcane Company in Shush in der Provinz Khuzestan. Gholian wurde wegen ihres Protests gegen ausbleibende Löhne für ihre Kolleg*innen der Haft Tappeh festgenommen und misshandelt. Beide stehen an der Spitze der besonders verfolgten Gewerkschafter*innen.

Alireza Akhavan, ein aktiver Arbeiter und Mitglied des “Zentrums zur Verteidigung der Rechte der Arbeiter”, wurde wiederholt verhaftet. Er hat mehrere Hafturteile hinnehmen müssen, setzt seinen Gewerkschaftskampf aber fort. Mehdi Farahi Shandiz, ein 53-jähriger Arbeiteraktivist und nebenbei Lehrer, wurde anlässlich einer Rede am 1. Mai 2019 festgenommen, nach neun Monaten freigelassen und danach wiederholt inhaftiert. Said Torabian, der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der “Arbeitergewerkschaft der Busgesellschaft Teheran und Vororte”, wurde wiederholt festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. Reza Shahabi Zakaria, Vorstandsmitglied des Teheran Busfahrer-Gewerkschaft, verbüßte mehrjährige Haftstrafen im Evin-Gefängnis in Teheran. Behnam Ebrahimzadeh (Asad), Aktivist für die Rechte und Belange arbeitender Kinder, Freund und Helfer von Dutzenden Arbeiterfamilien, arbeitete in einer Röhrenfabrik und verbrachte mehr als acht Jahre seines Lebens im Gefängnis. Pedram Nasrollah, Mitglied des Koordinierungsausschusses zur Gründung einer Dachorganisation iranischer Arbeitnehmerorganisationen, wurde wegen seiner diesbezüglichen Aktivitäten mehrmals zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Hossein Ronaghi-Maleki ist ein iranischer Blogger und politischer Dissident, der 2009 wegen seiner Rolle bei den Protesten nach Wahlfälschungen im Iran inhaftiert wurde. Er schrieb auch unter dem Pseudonym Babak Khorramdin. Ronaghi-Maleki wurde am 13. Dezember 2009 festgenommen, weil er Journalisten und politischen Aktivisten geholfen hatte, das Verbot ihrer eigenen Webseiten nach den Präsidentschaftswahlen im Vorjahr umgehen zu können. Er wurde beschuldigt, die Führung des Landes beleidigt zu haben, und stand unter starkem Druck, im Fernsehen ein Geständnis abzulegen. Ronaghi-Maleki wurde zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. Im Sommer 2012 erhielt er eine Haftverkürzung aus medizinischen Gründen. Er wurde im Juni 2019 zunächst freigelassen, um am 23. Februar 2022 erneut festgenommen zu werden. Am Tag vor seiner letzten Verhaftung hatte er in einer Reihe von Tweets einen Plan zur Einschränkung des Internets im Iran kritisiert.

Jafar Azimzadeh ist Vorsitzender der „Freien Arbeitergewerkschaft im Iran“. Im März 2015 wurde er nach einem unfairen Verfahren vom Revolutionsgericht in Teheran zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sprach ihn der „Versammlung und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit“ und der „Verbreitung von Propaganda gegen das System“ für schuldig. Er musste zunächst nur einen Teil dieser Haftstrafe verbüßen, sitzt aber seit Januar 2019 wieder im Teheraner Evin-Gefängnis.

Führungseliten, in den Kerkern geboren
Fortsetzung auf Seite 3