Wenn die Miete auf die Gesundheit geht
Hohe Inflation und steigende Mieten zwingen viele Iraner*innen zum Sparen in anderen Bereichen – etwa bei ihrer Gesundheit oder bei der Bildung. Laut einem offiziellen Bericht leiden 55 Prozent der iranischen Haushalte unter „Wohnungsarmut“.
Von Iman Aslani
Offizielle Angaben des Forschungszentrums des iranischen Parlaments bestätigen eine beunruhigende Tendenz: Die fortschreitende Inflation im Iran frisst nicht nur Ersparnisse, sondern buchstäblich die Gesundheit der Menschen. Hervorgehoben wurde in einer aktuellen Studie die Situation der Mieter:innen. Sie nehmen aufgrund rasant steigender Mietkosten mittlerweile weniger Kalorien auf als der durchschnittliche tägliche Bedarf eines Erwachsenen beträgt.
Bereits im Oktober 2021 hatte Afshin Sadr Dadras, Verbandschef der Fleischhersteller im Iran, erklärt, dass sich der Fleischkonsum im Iran inflationsbedingt halbiert habe. Auch der Konsum von Milchprodukten ist in den vergangenen Jahren spürbar zurückgegangen. Expert*innen warnen dementsprechend vor Protein- und Kalziummangel und infolgedessen vor Wachstumsstörungen bei Kindern, Osteoporose oder Untergewicht bei Neugeborenen.
Offiziellen Angaben zufolge sind die Mietkosten im April und Mai des laufenden Jahres im Vergleich zur Vorjahreszeit um mehr als 38 Prozent gestiegen. In den vorangegangenen 30 Jahren hatten die Mieten durchschnittlich um rund 20 Prozent im Jahr zugenommen. Die iranische Regierung versucht seit 2020, die Wohnkosten durch eine Mietpreisbremse einzudämmen. Demnach dürfen die Mieten in der Stadt Teheran um maximal 25 Prozent im Jahr, in anderen Großstädten um höchstens 20 Prozent jährlich steigen. Die Mietpreise sind jedoch innerhalb der vergangenen vier Jahre im Durchschnitt um 41 Prozent gestiegen. Viele Vermieter ziehen angesichts der staatlichen Regulierung des Markts ihre Wohnungsangebote lieber zurück. Das lasse den Druck im Kessel noch mehr steigen, heißt es in einer Umfrage, die vor Kurzem in der iranischen Wirtschaftszeitung Donyaye Eghtesad veröffentlicht wurde.
Zur weiteren Anspannung des Wohnungsmarktes trägt ein nicht eingehaltenes Wahlversprechen von Präsident Ebrahim Raisi bei. Er hatte jährlich eine Million Neubauwohnungen versprochen.
Familien-WGs und Dachübernachtung
Durch permanent steigende Wohnkosten sind im Iran in den vergangenen Jahren neue Wohnformen entstanden. Medien berichten zum Beispiel von Wohngemeinschaften, bei denen sich zwei oder mehrere Familien eine Wohnung teilen. Auch Termini wie „Heizungsraum-“ beziehungsweise „Dachübernachtung“ haben ihren Weg in den Volksmund gefunden. Besonders ledige und junge Männer, die sich als saisonale Arbeitskraft in der Hauptstadt durchschlagen wollen, übernachten für verhältnismäßig wenig Miete im Sommer auf Dächern und in der kalten Jahreszeit in Heizungsräumen.
Das Internetportal der Teheraner Tageszeitung Hamshahri veröffentlichte bereits im Sommer 2020 Bilder von Zelten auf Dächern und berichtete von Übernachtungen am Rand von Friedhöfen oder in Ladenlokalen. Selbst für eine Übernachtung auf dem Dach hätten sich die Kosten verdoppelt, zitierte Hamshahri zu der Zeit den Bürgermeister des 22. Teheraner Bezirks, Ali Nozarpour.
Laut dem Bericht des Forschungszentrums des iranischen Parlaments vom 20. Mai 2023 wohnen 55 Prozent der iranischen Haushalte „schlecht“. Das Zentrum benutzte den Begriff „Wohnungsarmut“. Demnach besitzen die entsprechenden Wohnräume entweder den notwendigen Mindeststandard nicht oder schlucken mehr als 30 Prozent des monatlichen Einkommens der Bewohner:innen. Im Jahr 2005 waren 24 Prozent der Haushalte von dieser Wohnungsarmut betroffen.
Generationsübergreifende Armut
Die Verteuerung des Wohnraums spielt Expert*innen zufolge eine entscheidende Rolle bei der Verarmung der Gesellschaft. Um Miet- und Lebensmittelpreise bezahlen zu können, ist laut dem Forschungszentrum des iranischen Parlaments der Anteil der Ausgaben für Bildung an den Gesamtausgaben eines Privathaushalts innerhalb eines Jahrzehnts durchschnittlich um 60 Prozent gesunken. Hier warnen Experten deshalb vor einer generationsübergreifenden Armut.
Um zu überleben, würden Haushalte Maßnahmen ergreifen, die sie ärmer machten, hielt der Sozialforscher und Publizist Abbas Abdi am Wochenende in der Teheraner Tageszeitung Etemad fest. Immer mehr Familien machten demnach bei Bildung, Ausbildung, Gesundheit und anderen armutslindernden Bereichen Abstriche und rutschten infolgedessen in größere Armut ab.
Die anhaltende Verteuerung im Bereich Mieten ist dabei nur ein Teil der Inflationsrate von knapp 55 Prozent. Mitte Mai sorgte Ali Agha-Mohammadi, einflussreiches Mitglied des iranischen Schlichtungsrats, für Aufsehen, als er sagte, dass 19,7 Millionen Menschen im Iran der Grundbedarf an Wohnraum, Kleidung, Nahrung, Bildung, Gesundheit und Arbeit fehle. Die Folgen bleiben jedoch nicht nur wirtschaftlich. Experten sehen seit Jahren Indizien für soziale Probleme wie steigende Kriminalität, die in soziale Krisen umschlagen könnten. Das Motto, unter das das laufende Jahr vom religiösen Oberhaupt der Islamischen Republik Ali Khamenei gestellt wurde, lautete: „Das Jahr der Inflationskontrolle und des Produktionsanstiegs“.♦
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