Ukraine-Krieg: Twitter als Ort des Widerstands gegen die offizielle Politik

Die Wut der Iraner*innen über die offizielle Haltung ihres Landes zur russischen Invasion in die Ukraine offenbart sich in den sozialen Medien. Auch der russische Botschafter im Iran ärgert die Twitter-Nutzer*innen.

Von Nasrin Bassiri

Die Bevölkerung im Iran ist – jenseits politischer Interessen und Überzeugungen – westlich orientiert. Viele Menschen aus der Mittelschicht haben in Westeuropa oder den USA studiert. Sie und ihre Familien haben ihre Beziehungen zu westlichen Ländern aufrechterhalten, ihre Kinder zum Studieren dorthin geschickt, lassen sich bei komplizierten ärztlichen Eingriffen dort behandeln und sind, als sie vor den Ayatollahs flüchten mussten, in westeuropäische Länder und die USA geflüchtet. In Kalifornien lebt die größte iranische Gemeinde im Ausland, zwei oder drei Millionen Menschen. Viele Politiker*innen im Iran, darunter wichtigste Minister, haben in Europa oder den USA studiert, nun studieren ihre Söhne und Töchter dort.

Nur ein Bruchteil der linken Oppositionellen hat sich in den Jahren nach der iranischen Revolution für die damalige Sowjetunion als Fluchtort entschieden, oft hatten sie keine andere Wahl. Viele, die in diversen Sowjetstaaten gelandet waren, setzten sich einige Jahre später in westeuropäische Länder ab.

Möglicherweise sind zahlreiche Kriege Russlands gegen den Iran in den letzten Jahrhunderten mit dafür verantwortlich, dass Iraner*innen nicht mit Russland warm werden. Durch den Golestan-Friedensvertrag von 1813 annektierten die Russen beachtliche Teile des Königreichs Iran, 1828 verlor der Iran durch den Turkmentschai-Vertrag weitere Gebiete an das russische Kaiserreich. Teile des heutigen Aserbaidschans, Armeniens, Georgiens und Tschetscheniens sind ehemals iranische Gebiete.

Pro Russland sind bei der Invasion in die Ukraine außer dem geistlichen Oberhaupt des Iran Ayatollah Ali Chamenei nur die Revolutionsgarde, ultrakonservative Islamisten sowie Ultra-Linke, die den globalen Kapitalismus und den Imperialismus als Hauptfeind der Menschheit betrachten.

Das den Reformern nahstehende Nachrichtenportal Eghtesad-News hat diese Karikatur in einem Bericht über den Ukraine-Krieg veröffentlicht!
Das den Reformern nahstehende Nachrichtenportal Eghtesad-News hat diese Karikatur in einem Bericht über den Ukraine-Krieg veröffentlicht!

Kritik in den Sozialen Netzwerken

Faeze Hashemi, ehemalige Abgeordnete und Tochter des verstorbenen Ayatollah Hashemi Rafsanjani, eines engen Gefährten Ayatollah Chomeinis, spricht in einem Video vom „arroganten Auftreten Russlands“ gegenüber dem Iran und einer „demütigenden Beziehung“: „Statt die Invasion zu verurteilen, stehen wir den Russen zur Seite und tun so, als ob die USA für den Krieg verantwortlich seien.“ Sie kritisierte, dass der russische Botschafter im Iran iranische Medien angewiesen hätte, bei der Berichterstattung die Worte „militärischer Angriff“ und „Krieg“ zu vermeiden und statt dessen den Begriff „Sondereinsatz“ zu verwenden. „Unser Außenministerium ist schwach, sonst hätte es den Botschafter zurechtweisen müssen“, so Hashemi.

Der ehemalige iranische Staatspräsident Mohammad Chatami sagte in seiner Botschaft an den dritten „Kongress der Veteranen-Versammlung“: „Was in der Ukraine passiert, ist die Invasion in ein freies Land durch eine fremde Macht.“

Ali Motahari, ehemaliger Abgeordneter und Sohn eines hohen schiitischen Gelehrten, fand mit einem Tweet breite Resonanz. Er schrieb darin: „Der Iran muss Russlands Invasion in die Ukraine verurteilen, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Zur Zeit berichtet die staatlichen Fernseh- und Rundfunksender des Iran über die Ukraine so, als ob wir eine russische Kolonie wären. Erinnern wir uns immer an die Trennung Georgiens, Aserbaidschans und Armeniens vom Iran durch Russland und die sowjetische Unterstützung Saddam Husseins bei seinem Angriff auf Iran.“

Vieler Twitternutzer*innen zeigen unter dem Hashtag # اوکراین auf Persisch oder #Ukraine zahlreiche Bilder der Brutalität des Krieges und des Widerstands des ukrainischen Volkes. Ein Nutzer, der sich Ukraine-Fan nennt, twitterte einen Koranvers und eine gelbe Blume. Er kritisiert Europa, weil es die Ukraine nicht sofort in die Europäische Union aufnimmt.

Ali Ebrahimzadeh schreibt: “Kein Wunder, dass manch einer die Invasion in die Ukraine rechtfertigt! Die ticken so wie manche, die meinen, die Frau ist selber schuld, wenn sie vergewaltigt wird! Sie soll wohl etwas angestellt haben.“

Der Sozialwissenschaftler Erfan Sabeti zittiert Yuval Noah Harari: „Putins Problem ist – wie das der meisten Diktatoren: Die Menschen um ihn herum fürchten sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Folglich glaubt er an seine eigenen Lügen. Er hat wiederholt die Existenz der Ukraine geleugnet, und die Menschen um ihn herum haben das bestätigt und meinen, die Ukrainer wollen sich Russland anschließen.“

Der Historiker Vahid Bahman twittert: „Schaut den Unverschämten an!“ Er meint damit Levan Dzhagaryan, den russischen Botschafter in Teheran. „Er sitzt in Teheran und sieht zu, dass seit Wochen die Ukraine brutal attackiert wird; eine weitreichende Invasion mit Tausenden Toten und Verletzten! Und nun will er den iranischen Medien vorschreiben, die Worte ‚militärischer Eingriff‘ und ‚Invasion‘ nicht zu benutzen!“

Er schreibt weiter: „Die Russland-Bewunderer sagen andauernd, dass das derzeitige Russland nichts mit der Sowjetunion zu tun habe. Sie vergessen dabei, dass die Russen in den vergangenen Zeiten von nichts anderem als der ‚Sowjetunion‘ reden, sie reden über „sowjetische Grenzen“, „sowjetische geopolitische Verträge‘, und sie sind auch mit der Flagge der Sowjetunion auf ihren Militärfahrzeugen in der Ukraine unterwegs.“

Historische Tatsachen wegradiert

Ali Motahari sagt: „Ich denke, dass Russland in unsere Machtstruktur eingedrungen ist. Leider haben wir auf allen Ebenen der Machtstruktur in unserem Land Personen, die der Ur-Politik unseres Landes nach der Revolution – ‚Weder unter Einfluss des Ostens noch unter Einfluss des Westens´-  den Rücken gekehrt haben. Sogar in unseren Schulbüchern wurden historische Tatsachen, die auf Russland Schatten werfen, wegradiert. Das ist eine Irreführung der Nation.“ Und weiter: „Ich denke, Russland versucht gerade, den Konflikt zwischen dem Westen und dem Iran um die neue Runde der Atomvereinbarung für seine Ukraine-Affäre zum Vorteil nutzen. Russland glaubt, dass, wenn die Vereinbarung wiederbelebt wird, sich der Westen und insbesondere die Vereinigten Staaten auf das Thema Ukraine fokussieren werden. Daher glaube ich, dass die Russen die Atomgespräche gerne verlängern würden. Das ist aber keine faire Politik. Es bedeutet, Russland möchte den Iran weiterhin unter westlichen Sanktionen sehen.“

Ali Motahari verweist auch auf die Geschichte der iranisch-russischen Beziehungen bezüglich der Annexion von Teilen des iranischen Territoriums und sagt: „Russland hat alle westlichen Sanktionen gegen den Iran im UN-Sicherheitsrat begleitet. Aber in Syrien hat es den Iran schutzlos an Israel ausgeliefert und handelt koordiniert mit Israel. Deshalb hat Russland sich nie mit dem Iran solidarisch verhalten und orientiert sich lediglich an seinen eigenen Vorteilen.“

Sadegh Zibakalam, ein namhafter kritischer Hochschullehrer und Denker, twittert: “Wenn Herr Putin in seiner 23-jährigen Amtszeit wirtschaftliche, politische und soziale Fortschritte in Russland hätte herbeiführen können, wäre sein Beharren auf die Annexion der Ukraine verständlich. Aber auf welchen Gebieten hat Putin Fortschritte vorzuweisen außer bei militärischen Fertigkeiten und der Fähigkeit, die Opposition zum Schweigen zu bringen? Wenn in Russland heute eine freie Wahl stattfinden würde: Hätte Putin irgendeine Chance auf Erfolg?“

Foto aus dem Twitter
Foto aus dem Twitter – „Es lebe der Führer des Widerstandes gegen den Aggressor Russland“

Kein russischer Wodka

Mehdi Hashemi, ein bekannter Schauspieler, hat einen Videoclip von sich ins Netz gestellt. Er zeigt sich darin mit einer Wodkaflasche und sagt: “Manche behaupten, ich trinke Wodka. Unsinn! Ich mag gar keinen Wodka, ganz besonders, wenn es eine russische Marke ist!“ Er wirft die Wodkaflasche mit Wucht gegen die Wand, was man nicht sehen, aber hören kann.

Hamid Farrokhnejad, ebenfalls ein bekannter Schauspieler, hat ein Video gedreht, in dem er erklärt, er werde einen Preis, den er in Moskau für seine Rolle in einem Antikriegsfilm gewonnen habe, als Protest gegen die „barbarische Invasion der Russen in der Ukraine“ zurückgeben: „Ich hoffte, dass alle Künstler*innen der Welt sich anschließen und den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine verurteilen.“

Der islamische Verein der Hochschullehrer*innen schreibt in einem Brief an den iranischen Außenminister: „Laut veröffentlichten Berichten forderte Herr Levan Dzhagaryan, Botschafter der Russischen Föderation, bei einem Treffen mit einer Auswahl der iranischen Medien diese dazu auf, die russische Propagandapolitik zu befolgen und Russlands brutale Aggression gegen die Ukraine in unseren Medien als ‚militärische Spezialoperation‘ zu bezeichnen. Leider ist es nicht das erste Mal, dass er mit seinen beleidigenden Forderungen und Aussagen die Gefühle und den Stolz der Iraner verletzt. Es wird dringend erwartet, dass das Außenministerium den russischen Botschafter einbestellt, um ihn über unsere Ideale zu informieren, über sein Fehlverhalten, was die diplomatischen Gepflogenheiten betrifft, aufzuklären und ihn ernsthaft zu warnen, in Zukunft solche beleidigenden Äußerungen und solches Fehlverhalten zu unterlassen.“♦

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