Proteste im Iran:
Wie buchstabiert man die Geschichte?

Wenn ihr keinen Namen habt, schweigt!“, ruft das Mädchen seinem Publikum zu. Ihre Zuhörer sind belesene, erfahrene Intellektuelle, und fast alle haben eine bewegte Lebensgeschichte hinter sich. Sie sitzen in Teheran, Washington, Frankfurt oder an anderen Orten dieser Welt. Fast dreitausend sind es, die sich virtuell im Club House versammelt haben.

Das Virtuelle und das Reale sind im heutigen Iran zu einer Einheit verschmolzen. Die Audio-App ersetzt dieser Tage für viele Iraner:innen das, was sie in der realen Welt vermissen: Rede- und Versammlungsfreiheit, ein offenes Forum für ernsthaften Gedankenaustausch, einen Kommentarplatz für bekannte und weniger bekannte Journalist:innen.

Als die Studentin sich aus der Mitte der Wirklichkeit zu Wort meldet, sind die Versammelten in diesem „Room“ bereits seit fast sieben Stunden dabei, eine Bezeichnung für das zu suchen, was Chamenei „Ereignisse“ nennt. Doch keine ist passend: weder Revolution noch Bewegung oder Aufstand, noch Unruhen oder Protest. Das Mädchen ruft zum Schweigen auf. Sie will sagen: Seht euch genau an, was passiert. Eine ganze Generation ist dabei, das gesamte Land umzukrempeln. Sie sagt, Mut habe die Angst überwunden. Inzwischen seien kopftuchlose Gymnasiastinnen zum Motor der Ereignisse geworden. Das Regime hat in vielen Städten inzwischen die Schließung der Schulen angeordnet. Vor allem in der Provinz.

Gibt es Stadt-Land-Differenzen?

Im heutigen Iran gibt keinen Unterschied zwischen Land und Provinz, wenn es um die Zufriedenheit geht. 40 Prozent der Menschen leben offiziell unter der Armutsgrenze, andere befinden sich nahe daran. Entweder vegetieren sie am Rande der Großstädte als Obdachlose oder sie kämpfen gegen die Wasserknappheit auf den Dörfern. Der Mittelstand ist fast verschwunden. Und die Sprösslinge der herrschenden Clique stellen ihren Reichtum schamlos zur Schau.

Fast 74 Prozent der Iraner:innen leben in den Städten. Und die Verfügbarkeit der Informationen kennt dank des Internets keine Grenzen mehr. Die iranische Bevölkerung, ob arm oder reich, ist internetaffin. Zweifellos ist es eine Kulturrevolution, was wir heute sehen, welche andere Bezeichnung man für diese geschichtliche Phase letztendlich auch finden mag. Eine ganze Generation, allen voran die jungen Frauen, sagt Nein zur offiziellen Islamisierungspolitik.

An dem Tag, als die junge Studentin ihr Publikum auffordert, mit der Namensfindung aufzuhören und sich die Wirklichkeit näher anzuschauen, genau an diesem Tag meldet die Nachrichtenagentur Tasnim, 46 Organisationen und Institutionen seien im Iran ausschließlich für die Propagierung und Durchsetzung des Kopftuchzwangs zuständig, manche dieser Organe hätten mehr Geld zur Verfügung als ein ganzes Ministerium. Tasnim steht den Revolutionsgarden nahe und fragt sich, warum Mahsas Kopftuch trotzdem überall in großen wie kleinen Städten als Symbol für den Aufruhr in den Händen der Konterrevolution benutzt werde.

Risse in den Sicherheitskräften?

Tasnim und der Rest des harten Kerns der Macht haben genug Namen und Bezeichnungen für die „Ereignisse“: zionistische Machenschaft, Verschwörung diverser Geheimdienste, Lügen der westlichen Presse, die Liste ist lang. Namensprobleme haben sie nicht. Haben sie auch genug Ausdauer? Zeichen der ersten Risse unter den Sicherheitskräften werden fast vier Wochen nach Beginn der Proteste sichtbar. Der Teheraner Provinzgouverneur sprach am vergangenen Freitag bei einer Pressekonferenz von der Müdigkeit der „kämpfenden Einheiten“, die im Dauereinsatz seien.

Wer den längeren Atem hat, werden die nächsten Wochen zeigen. Was sich auch ereignen mag: Wir haben einen neuen Iran, die Islamische „Republik“, wie wir sie in den letzten 43 Jahren gesehen haben, gehört der Geschichte an. Der Tod der jungen Kurdin Mahsa war ein Fanal. Für was? Den Namen dafür werden die Kommenden finden.♦

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