„Wir sind besorgter um den Iran als je zuvor“
Seit dem dem zwölftägigen Krieg zwischen Iran und Israel Ende Juni bereiten sich zahlreiche oppositionelle Gruppen und Akteur*innen im Iran auf ein mögliches Ende der Islamischen Republik vor. In zahlreichen Stellungnahmen, Fernsehinterviews und öffentlichen Auftritten bleibt jedoch offen, wie genau dieser Umbruch herbeigeführt werden soll. Vieles deutet darauf hin, dass ein Teil der Opposition auf eine entscheidende Schwächung des Regimes durch israelische Angriffe hofft – in der Erwartung, anschließend selbst die Macht zu übernehmen.
Einen der wenigen Kontrapunkte zu dieser Haltung setzt ein Zusammenschluss von 17 politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen aus dem Iran und dem Exil. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie einen eigenständigen Weg zur „Rettung Irans“ – und zum Ende der islamischen Herrschaft. Unterzeichnet wurde der Appell unter anderem von der Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi, der Künstlerin Parastou Forouhar, der Religionswissenschaftlerin und ehemaligen politischen Gefangenen Sedigheh Vasmaghi, der prominenten Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh sowie den politischen Gefangenen Mehdi Mahmoudian und Abolfazl Ghadyani.
Angesichts des jüngsten Kriegs äußern die Unterzeichner*innen ihre Sorge, „dass der Schatten des Krieges noch immer über Land und Nation liegt“. Sie rufen politische Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen dazu auf, gemeinsam die Voraussetzungen für ein Referendum und die Bildung einer verfassungsgebenden Versammlung zu schaffen. Wir haben mit Sedigheh Vasmaghi über die nächsten Schritte nach dem gemeinsamen Aufruf und ihre Einschätzung der aktuellen politischen Lage gesprochen.
Interview: Pooyan Mokari
Frau Vasmaghi, Sie haben in Ihrer Erklärung unter anderem geschrieben: „Wir sind besorgt um das Schicksal Irans.“ Was genau unterscheidet die aktuelle Situation von der Vergangenheit, das sie so besorgniserregend macht?
Sedigheh Vasmaghi: Vielleicht gab es diese Sorge schon immer, aber heute sind wir besorgter um den Iran als je zuvor in unserem Leben. Das liegt daran, dass die Lage des Landes schlechter ist als zu jeder anderen Zeit. Es gibt jede Form von Bedrohung wie externe Bedrohungen und Krieg sowie umfassende interne Probleme und Krisen. All diese Probleme sind auf die falsche Politik der Islamischen Republik zurückzuführen. Jede Regierung hat die Pflicht, Krisen zu lösen. Aber die Islamische Republik ist selbst die Quelle der Krise, sie schafft mit ihrer Politik Krisen. Sie hätte den Krieg verhindern können, scheint ihn aber willkommen zu heißen – mit den Slogans, die sie ruft, den Worten, die sie sagt, und ihrem unversöhnlichen Verhalten. Das ist eine Politik, die, kann ich sagen, kriegstreiberisch und aggressiv ist, sowohl gegenüber der Bevölkerung als auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft. Jetzt ist es dazu gekommen, dass die USA und Israel direkt und offen in den Krieg gegen den Iran eingetreten sind. Das macht uns Sorgen. Und diese Bedrohungen wirken sich auf alle Aspekte des Lebens der Menschen aus: Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung hinsichtlich der Zukunft nehmen zu, sie beeinflussen aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Es gibt nichts, das nicht betroffen ist. So leiden die Menschen im Iran im Alltag unter Mangel an Wasser und Strom sowie Interneteinschränkungen. Das liegt daran, dass die Regierung nicht das Wohl der Menschen angestrebt hat, sondern Abenteuer außerhalb der Grenzen verfolgt, die der Bevölkerung keinen Nutzen gebracht haben. Die Menschen im Iran fragen sich, was das Ergebnis davon ist, dass Hunderte von Milliarden Dollar unserer Mittel für Stellvertreterkräfte und die Ziele der Herrschenden ausgegeben wurden, die nichts mit der Nation zu tun haben. Wir wissen, dass es kein anderes Ergebnis hatte als die Schaffung von Krieg und zahlreichen Krisen für Land und Volk.
Heute sind die Bedingungen schwieriger denn je, während die Regierung in ihrer schwächsten Position überhaupt ist. Unter solchen Umständen sind wir besorgt um unser Heimatland. Deshalb haben wir vorgeschlagen, dass die Macht an das Volk zurückgegeben, ein Referendum abgehalten und eine verfassungsgebende Versammlung gebildet werden sollte, damit eine Regierung des nationalen Konsenses an die Macht kommt, die innere Versöhnung und Frieden mit der internationalen Gemeinschaft anstrebt und all ihre Anstrengungen dem Aufbau des Landes widmet.
Die Regierung hat seit Beginn des Krieges den Druck auf verschiedene soziale Gruppen erhöht. Welche Auswirkungen hat die Kriegssituation Ihrer Meinung nach auf die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft oder der Opposition?
Vasmaghi: Der Aufbau eines Landes erfordert eine ruhige Situation; in Kriegszeiten können wir uns nicht dem Aufbau des Landes widmen und über seine Probleme nachdenken. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten erfordern Ruhe, doch diese Ruhe existierte unter der Herrschaft der Islamischen Republik nie. Die Islamische Republik hat zivilgesellschaftlichen Organisationen nie erlaubt, in Ruhe zum Aufbau des Landes und der Gesellschaft beizutragen, aber die Kriegssituation erhöht diesen Druck. Zugleich zwingen diese Bedingungen die Menschen dazu, ernster nachzudenken. Die Menschen im Iran betrachten diesen Krieg nicht als ihren eigenen Krieg. Obwohl eine ausländische Macht uns angegriffen hat, wissen die Menschen, dass die Herrschenden im Iran diesen Krieg hätten verhindern können. Doch sie taten es nicht, und daher sehen die Menschen sie als schuldig an. Das macht die Menschen entschlossener in der Ansicht, dass die Herrschenden der Islamischen Republik die Angelegenheiten dem Volk überlassen sollten. Vielleicht führt der Einfluss des Krieges auf das Leben und die Gedanken der Menschen dazu, dass die Opposition ernsthafter über das Schicksal des Iran nachdenkt. So wie wir, die Autor*innen und Unterzeichner*innen dieser Erklärung, heute gespürt haben, dass unser Land unter der Herrschaft von Machthabern, die einen falschen Weg einschlagen, in Gefahr ist. Wenn die Machthaber in eine Richtung handeln würden, die die Interessen des Landes schützt, würden wir uns nicht bedroht fühlen. Aber wir sehen, dass die Machthaber und die Regierung nicht in der Lage sind, angemessen zu reagieren – und selbst wenn sie es wären, würden wir immer noch gegen den Krieg sein. Sie sind nicht in der Lage, das Leben der Menschen zu sichern und die Infrastruktur zu erneuern. Aber dennoch rücken sie nicht von ihren früheren Positionen ab und geben nicht auf. Deshalb fühlen wir uns bedroht, und vielleicht wird dieses Gefühl der Bedrohung zu einem Einigungspunkt für die gesamte Opposition. Auf jeden Fall wollen wir nicht, dass der Iran wegen der Urananreicherung zerstört wird. Obwohl die Anreicherung als friedliches Recht aller Länder gilt, hat das Verhalten dieses Staates dazu geführt, dass der Iran auf der einen Seite und die Anreicherung auf der anderen Seite der Waage platziert wurden.
Was ist Ihr nächster Schritt nach dieser Erklärung, um den Druck auf die Islamische Republik zu erhöhen?
Vasmaghi: Unser nächster Schritt ist das gemeinsame Nachdenken und Beraten, um den Weg zur Abhaltung eines Referendums zu ebnen. Manche sagen: Wie kann ein Staat selbst ein Referendum über seine eigene Legitimität abhalten lassen? Wir wissen aber, dass die Situation des Landes und des Staates so ist, dass wir wirklich an einen Punkt gelangen könnten, an dem das Regime die Kontrolle über alle Angelegenheiten verliert. Wir sollten das Land unter diesen Umständen nicht ohne Plan zurücklassen. Ich denke, wenn die Forderung nach einem Referendum und der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung zu einer öffentlichen Forderung wird, die das gesamte Volk oder mindestens eine große Mehrheit unterstützt, kann dies die Islamische Republik unter Druck setzen und sie wird nachgeben. Dann kann die Abhaltung dieses Referendums geplant und es kann unter der Aufsicht unabhängiger nationaler und internationaler Institutionen durchgeführt werden. Die Verwirklichung jeder Idee beginnt mit ihrer Vorstellung, dem Nachdenken und der gemeinsamen Beratung darüber, einen Weg für ihre praktische Umsetzung zu ebnen. Und die Opposition, die diesen friedlichen Weg des Übergangs anstrebt, sollte auf diesem Weg gemeinsam nachdenken und handeln. Ich denke, wir alle sollten gemeinsam darüber nachdenken, wie wir einen Weg für die Abhaltung eines Referendums ebnen können.
Foto: Privat
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