Iran, Gewinner der afghanischen Tragödie?

Auch das iranische Regime ist von dem blitzartigen Sieg der Taliban überrascht. Es bereitet sich jetzt auf Kooperationen mit den künftigen Machthabern im Nachbarland vor.

Von Sepehr Lorestani

Die Verhandlungen zwischen der afghanischen und der US-Regierung auf der einen und den Taliban auf der anderen Seite hatten in den vergangenen Monaten immer wieder den Eindruck erweckt, als müsse man sich auf einen langjährigen Bürgerkrieg in Afghanistan einstellen. In dieser Zeit hat die Islamische Republik Iran mehrere Maßnahmen getroffen: Neben der Verstärkung der Truppen entlang der gemeinsamen Grenze bemühte sich die iranische Revolutionsgarde um die Schaffung einer paramilitärischen Gruppe namens „Haschd-Al-Schi-i“ in Afghanistan. Die iranische Tageszeitung Kayhan, wichtigstes Sprachrohr der Hardliner um Staatsoberhaupt Ali Chamenei, hat dies als Maßnahme gegen „die terroristische Gruppe Taliban“ bezeichnet. Wäre die Nachricht über die Bildung von „Haschd-Al-Schi-i“ wahr, hätte der Iran neben der von der Revolutionsgarde gegründeten Miliz „Fatemiyoun“ einen zweiten militärischen Arm in Afghanistan, um im Falle eines Bürgerkrieges dort kräftig mitzumischen – wie in Syrien, dem Libanon und dem Irak.

Parallel zu diesen Maßnahmen setzte sich die Regierung von Staatspräsident Hassan Rouhani für die Anerkennung der Taliban als Machtfaktor in Afghanistan ein. Irans Außenminister Mohammed Javad Zarif lud deren Anführer wiederholt nach Teheran ein und fungierte als Vermittler zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. 

Doch überraschend für alle gewann „die terroristische Gruppe“ den zwanzigjährigen Kampf in Afghanistan und wird sehr wahrscheinlich als Alleinherrscher die Geschicke des Landes in den nächsten Jahrzehnten bestimmen.

Übungsplatz der Fatemiyoun-Brigade im Iran
Übungsplatz der Fatemiyoun-Brigade im Iran

Freude der Hardliner im Iran

Am 15. August fielen auch der afghanische Rundfunk und der Präsidentenpalast in die Hände der Taliban. Ein freudiges Datum für die Islamisten und ihre „anti-imperialistischen“ Unterstützer im Iran: Denn an diesem Tag sei die „Niederlage des Erzfeindes Amerika“ besiegelt worden. Damit ist ein zwanzigjähriger Wunsch Teherans in Erfüllung gegangen. Seit dem Einmarsch der US-Armee in Afghanistan verlangt das iranische Regime den Abzug der ausländischen Truppen aus dem Nachbarland.

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Am 16. August zitierten iranische Medien den „neu gewählten“ Präsidenten Ebrahim Raissi mit den Worten: „Die militärische Niederlage und der Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan müssen als eine Chance angesehen werden, um das Leben, die Sicherheit und den dauerhaften Frieden in diesem Land wiederherzustellen.“

Stunden zuvor hatte Ali Shamkhani, Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrats des Iran, getwittert: „Heute drückten die traurigen Bemerkungen des (afghanischen) Verteidigungsministers die Auswirkungen der zwanzigjährigen Besetzung Afghanistans durch die Vereinigten Staaten und die Tiefe des Einflusses Washingtons auf die Regierung aus.“

General Bismillah Mohammadi, der seit März dem afghanischen Verteidigungsministerium vorstand, hatte in einer Twitter-Nachricht auf die Abreise von Präsident Ashraf Ghani und anderen hochrangigen Kabuler Regierungsbeamten aus Afghanistan mit den Worten reagiert: „Sie haben uns die Hände auf den Rücken gefesselt und die Heimat verkauft, verdammt sei Ghani und seine Gruppe.“ Dem Tweet ist nicht zu entnehmen, wen Mohammadi mit „sie“ meint, doch für Irans Politiker ist klar, dass damit die ausländischen „Schutzmächte“ unter Führung der USA gemeint sind.

Nicht nur die Hardliner, auch die Reformer und so genannten Gemäßigten in den Machtzirkeln der Islamischen Republik begrüßen den Rückzug der USA. Mit dem Unterschied, dass Letztere vor der alleinigen Herrschaft der Taliban warnen, während die Hardliner einer Machtübernahme der Radikal-Islamisten freundlich bis gleichgültig gegenüberstehen.

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