Der Nahe Osten nach dem Atomdeal
Mit dem Atomdeal bilden sich in den und um die Konfliktregionen im Nahen Osten neue Koalitionen. Ein zumindest vorläufiger Verbleib des syrischen Herrschers Assad wird wahrscheinlicher. Die veränderte Perspektive des Westens könnte bald auch dem dort längst agierenden Iran erlauben, in Syrien offen militärisch präsent zu sein.
Nach dem Atomkompromiss, der am 14. Juli in Wien zwischen dem Iran und der Gruppe 5+1, also den Vetomächten des UN-Sicherheitsrates und Deutschland, geschlossen wurde, haben viele damit gerechnet, dass im Nahen Osten nun nach und nach Ruhe einkehren würde. Die reale Entwicklung der Ereignisse hat jedoch die Bedeutung des überfälligen Atomdeals relativiert. Denn für Sicherheit und Stabilität im Nahen Osten war die Lösung des Atomkonflikts mit dem Iran nur einer der bestimmenden Faktoren. Die Existenz der machthungrigen extremistisch-terroristischen Gruppen und die ethnischen und religiösen Konflikte in der Region sind die andere Seite des Problems. Zudem verfolgen der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei mit völlig unterschiedlichen Zielsetzungen jeweils hegemoniale Vormachtstellungen in der Region. Das alles bedeutet für den Friedensprozess im Nahen Osten einen langen und schwierigen Weg.
Mittlererweile haben zwei völlig verschiedene Szenarien und Strategien die Regionalmächte und ihre Unterstützer in zwei Lager geteilt. Russlands Putin und Irans Rouhani denken an die regionale Aufteilung von Macht- und Einflusssphären; Israel, Saudi-Arabien und die US-amerikanischen Republikaner wollen hingegen eine Gegenmacht zur “schiitischen Achse” forcieren – sie spielen das „Win-Lose-Spiel“. Verlierer soll die schiitische Achse Iran-Libanon-Syrien-Jemen sein. Die Türkei steht dazwischen, sie hat sich noch nicht eindeutig positioniert, weil sie sich als Spielerin der höheren Kategorie betrachtet. Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan will an die Tradition des Osmanischen Reiches anknüpfen und die arabisch-sunnitischen Staaten für eine politisch-religiöse Konföderation gewinnen.
Rouhanis Win-Win-Spiel anderer Art
Rouhani und sein Außenminister Javad Zarif betrachten den Wiener Atomdeal als geeignetes Modell der kontrollierten Konfliktaustragung. Dabei sehen sie den Atomkonflikt mit dem Westen als gelöstes Randproblem. Dieses habe zunächst gelöst werden müssen, um sich dann der Region widmen zu können. Am 24. September, dem Tag vor seiner Abreise zur UN-Generalversammlung, sagte Rouhani vor der Presse: „Heute geben alle zu, dass eine erfolgreiche Konfrontation mit dem Terrorismus nur in Kooperation mit dem Iran möglich ist. Wenn es den Iran und seine Streitkräfte nicht gegeben hätte, wären Bagdad und sogar die heiligen Stätten Mekka und Medina den Terroristen in die Hände gefallen.“ Die „bedrohten Länder der Region“ könnten mit der Hilfe Irans rechnen, so der iranische Staatschef.
Darüber möchten er und sein Außenminister mit den Nachbarländern reden. Prahlerisch gab Rouhani zu Protokoll, die syrische Armee, die Hisbollah im Libanon, die zum syrischen Präsidenten loyal stehenden Kräfte, die irakische Armee, die schiitischen Milizen des Irak und die Militärs der kurdischen Provinz – alle hätten im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) iranische Hilfe erhalten. Zugleich stellte er den Amerikanern und ihrer internationalen Koalition im Kampf gegen den IS ein schlechtes Zeugnis aus. Trotz ununterbrochener Luftangriffe hätten sie nicht verhindern können, dass der IS weiterhin große Gebiete Iraks und Syriens unter Kontrolle hält. Unter diesen Bedingungen sei der Iran in der Welt eine gegen Terror und Gewalt kämpfende Macht und könne ein Fokus der nachhaltigen Entwicklung im Nahen Osten sein. Die Sichtweise des iranischen Präsidenten wird jedoch von seinen Nachbarländern nicht geteilt. Sie verfolgen entgegengesetzte hegemoniale Interessen, die den Machthabern in Teheran nicht genehm sein dürften.
Rouhani und seine neue Weltordnung
Am 28. September gab der iranische Präsident dann bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung zu Protokoll, bei dem „umfassenden gemeinsamen Aktionsplan in Wien“ habe die Islamische Republik Iran nicht nur auf eine Nuklearvereinbarung abgezielt. „Vielmehr wollen wir nun neue und konstruktive Maßnahmen zur Schaffung einer neuen Weltordnung vorschlagen”, so Rouhani in New York. Am 29. September traf sich der iranische Außenminister Zarif mit seinen Amtskollegen aus den USA, Russland, Frankreich, England und Deutschland, um zusammen mit Federica Mogherini, der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, über die Ausführungsmodalitäten der in Wien getroffenen Vereinbarung zu reden.
Mogherini berichtete nach der Sitzung, dass bei der Diskussion über die regionalen Probleme auch über die Nutzung des bestehenden Formats, gemeint ist das Verhandlungsformat 5+1+Iran, gesprochen worden sei. An wichtigster Stelle der regionalen Probleme stünde nach wie vor Syrien. Praktisch würde dies bedeuten, dass der Iran bei dauerhafter Nutzung des 5+1+1-Formats uneingeschränkt an der Lösung regionaler Konflikte beteiligt wäre. Damit hätte die Führung der Islamischen Republik ihre Anerkennung als regionale Supermacht erreicht.
Rouhani verkündete bei seiner UN-Rede auch voller Sarkasmus, in Syrien und Jemen verteidigte sein Land „die Herrschaft der Mehrheit“. Welche Mehrheit das sein könnte, erklärte er jedoch nicht. Die in Syrien herrschenden Alawiten machen gerade zehn bis elf Prozent der Bevölkerung aus. Die Rebellen der schiitischen Huthis repräsentieren einen Bevölkerungsanteil von 30 bis 35 Prozent. Rouhani meint wohl, diese politischen Klassen würden den Willen der Bevölkerungsmehrheit repräsentieren.
Er schlug bei der UN-Vollversammlung zudem vor, den Iran zum Fokus exportorientierter Kapitalinvestitionen für den Nahen Osten zu machen. Eine solche Lösung würde die gemeinsamen Interessen und die Entwicklung der Beteiligten zur Basis einer dauerhaften regionalen Sicherheit machen. Mit den bisher praktizierten militärischen Drohungen wäre eine dauerhafte Sicherheit nicht zu gewährleisten.
Die Türkei und Saudi-Arabien haben andere Vorstellungen
Außer Israel habe drei weitere Länder – der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei – in Nahost und Zentralasien strategische Ansprüche und Ambitionen. Eine Sicherheitsordnung, die Ansprüche und Interessen dieser vier Länder einander annähern würde, ist bis jetzt nicht definiert. Für die absehbare Zukunft werden daher die politischen Bedingungen der Region höchst kritisch und mit vielen Unsicherheiten verbunden sein. Die Iraner hätten gute Voraussetzungen zur Durchsetzung ihrer regionalen strategischen Interessen. Sie verfügen über eine gewaltsam durchgesetzte politische Stabilität, der ideologische innere Zusammenhalt der politischen Klasse im Land ist ausgeprägt. Außerdem können sie in der Region mit starken und militanten schiitischen Unterstützern rechnen.
Die Türkei versucht seit 30 Jahren – Saudi-Arabien erst seit 2005 -, eine hegemoniale Regionalpolitik zu praktizieren. Die pantürkische Strategie hatte das Ziel, die von der Sowjetunion abgefallenen zentralasiatischen Länder an sich zu binden. Ernsthafter Konkurrent dabei war der Iran, der zunächst erfolgreich an die historische iranisch-kulturelle Identität der mittelasiatischen Länder anknüpfen konnte. Die Bestrebungen der Iraner blieben jedoch rudimentär. Ihnen fehlten wegen der Wirtschaftsembargos des Westens die notwendigen Finanzmittel. Zudem waren die USA stark präsent. Um sich von Russland zu emanzipieren, setzten die mittelasiatischen Führungsschichten eher auf die Militärmacht der USA. Die Türkei hat in den vergangenen 30 Jahren zwar ihren Anteil an Wirtschaft und Handel der Region stark erhöhen können, ihre pantürkische Ideologie konnte jedoch keinen Ansatzpunkt finden.
Die hegemonialen Interessen der Türkei waren aber nicht nur auf Zentralasien gerichtet. Ihre osmanisch-islamische Strategie zielte auch auf die arabischen Länder der Region. Hier unterstützte die Türkei sunnitische Gruppen und Strömungen, die den Interessen der Islamischen Republik Iran (IRI) diametral entgegen standen und diese sogar bewaffnet bekämpften. Damit wurden IRI und Türkei in ihrer Außenpolitik, insbesondere im Irak und Syrien, zu rivalisierenden Regionalmächten. Diese Rivalität hat wesentlich zur Zerstörung Iraks und Syriens beigetragen.
Saudi-Arabien ist auf dem Gebiet der expansionistischen und hegemonialen Politik ein Neuling und steht damit politisch hinter der Türkei. Das Königreich bietet selbst kein bestimmtes gesellschaftspolitisches Modell, hat jedoch einen Führungsanspruch für die islamische und arabische Welt und versucht mit allen Mitteln, den iranisch-schiitischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Mit der Einigung in der Nuklearfrage hat sich Saudi-Arabien zwar abgefunden. Das Königshaus ist jedoch stark bemüht, eine Annäherung zwischen dem Iran und den Westen zu verhindern. Diese Politik wird nicht aber von allen Arabischen Emiraten geteilt. Sie wollen den Konflikt mit dem Iran eher kontrollier- und verhandelbar halten. Bezogen auf die Syrienpolitik gibt es keine gemeinsamen Interessen zwischen den USA und Saudi-Arabien. Für die USA ist der Sturz Bashar Assads zum jetzigen Zeitpunkt nicht das vorrangige Ziel, weit wichtiger ist das Zurückdrängen des Islamischen Staates (arabisch: Daesch). In diesem Punkt finden die USA eher Anknüpfungspunkte an die Politik Teherans und Russlands. Auch die Türkei scheint sich allmählich in diese Richtung zu bewegen. Im Konflikt um die Bekämpfung der mit dem Iran verbündeten Huthi-Rebellen im Jemen unterstützen die USA zwar die saudische Position, wollen im Gegensatz zu jener aber die Ausbreitung von IS und anderen fanatisch-sunnitischen Gruppen nicht zulassen. Diese Gruppen sind jedoch für Saudi-Arabien ein Garant dafür, dass der Iran im Jemen nicht zum Zug kommt.
Nun kommen USA, EU, Russland und Iran zusammen
Unter den Großmächten wie auch unter den Regionalmächten des Nahen Ostens sind der Wille zum Sturz des Baath-Regimes in Syrien und die Forderung nach sofortigem Rücktritt seines Präsidenten Bashar Al-Assad rückläufig. Als Folge dieser Veränderung, die der Nukleareinigung mit dem Iran folgte, werden dieser und auch Russland nun als Teil einer Lösung für die syrische Krise ins Spiel gebracht. Am 26. September erklärte Amerikas Außenminister John Kerry nach einem Gespräch mit seinem britischen Amtskollegen Philip Hammond, Amerika hoffe, dass Russland, der Iran und jedes andere einflussreiche Land die Verhandlungen zur Lösung des Syrien-Problems unterstützten. Am 28. September erklärte Präsident Barack Obama bei seiner Rede vor den UN: „Wir müssen verstehen, dass die USA die Probleme der Welt nicht allein lösen können. Zur Lösung der syrischen Krise werden die USA mit jedem Land, einschließlich Russland und Iran, zusammenarbeiten.“
In ähnliche Richtung ging auch die Rede des französischen Präsidenten François Hollande. Stunden vor seiner UN-Rede hatte er von den Nachrichtenagenturen verbreiten lassen, er werde zur Beendigung der Syrien-Krise mit dem Iran und Russland zusammenarbeiten. Teheran und Moskau sollten jedoch akzeptieren, dass Assad nicht Teil eines politischen Übergangs in Syrien sein könne.
Am 26. September erklärte Wendy Sherman, stellvertretende Außenministerin und Verhandlungsführerin der USA bei den Wiener Atomgesprächen, die Bereitschaft der USA, mit dem Iran über Syrien in einen Dialog zu treten, liege in der Parallelität der Interessen beider Länder. Am 24. September erklärte dann auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskrise in Brüssel, für eine Lösung des Syrien-Konflikts seien auch Gespräche mit Syriens Staatschef nötig: „Es muss mit vielen Akteuren gesprochen werden, dazu gehört auch Assad“, so Merkel. Es müssten aber auch andere Akteure in der Region einbezogen werden „wie der Iran oder Saudi-Arabien”. Inzwischen signalisiert auch die Türkei ihre Bereitschaft, Assad in die Bemühungen um eine Friedenslösung einzubinden. Bisher hatte sie kompromisslos seine Ablösung als Vorbedingung einer Friedenslösung gefordert.
Moskau und Teheran offen verbündet
Zum Kampf gegen den IS haben Moskau und Teheran einen Plan erarbeitet, für den sie seit dem Sommer dieses Jahres werben. Er sieht vor, syrische Regierungstruppen und Anti-Assad-Rebellen in eine internationale Anti-Terror-Koalition einzubinden. Die westlichen Staaten und Russland sollen sich dabei auf Luftschläge beschränken. Am Boden sollen nur Syrer und Kurden kämpfen. Parallel hierzu sollen Neuwahlen unter UN-Aufsicht stattfinden. Assad soll in diesem Szenario noch für eine Übergangszeit im Amt bleiben dürfen.
Für diese Strategie baut Russland seine militärische Präsenz in Syrien massiv aus und hat bereits Kampfjets in die Stadt Latakia verlegt. Damit will Putin eine Entwicklung wie in Libyen unbedingt verhindern. Selbst für seine Luftschläge gegen Positionen des IS in Syrien möchte der russische Staatschef einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates haben. Russlands Putin und Irans Khamenei sehen in der Unterstützung von Assad die einzige Möglichkeit, den syrischen Bürgerkrieg zu beenden. Diese Einschätzung teilen weder die USA noch die EU und die arabischen Länder. Dennoch lässt sich bereits ein Kompromiss über den vorläufigen Verbleib Assads an der Macht erahnen. Am 25. September meldete das französische Fernsehen „France 24“, Russland und der Iran planten gemeinsam mit Syrien eine große Marineübung im Mittelmeer mit dem Ziel der Bekämpfung des Terrorismus und des IS. Sollte der Weltsicherheitsrat dem russischen Ansinnen folgen, hätte auch der Iran freie Hand, in Syrien offen militärisch präsent zu sein.
MEHRAN BARATI*