Wahlen im Iran: „Wir leben hier mit solchen Widersprüchen“
Über 60 Prozent der Wahlberechtigten boykottierten die erste Runde der Präsidentschaftswahl im Iran; an der nötigen Stichwahl nahmen dann mehr Menschen teil. Mit einem davon, der bei der Stichwahl den designierten neuen Präsidenten Pezeshkian gewählt hat, haben wir über seine widersprüchliche Entscheidung und seine Erwartungen an Pezeshkian gesprochen.
Bei der ersten Runde der iranischen Präsidentschaftswahl am 28. Juni 2024 haben nach offiziellen Angaben 39,9 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen. Dabei erreichte keiner der vier Kandidaten eine Stimmenmehrheit. Bei der Stichwahl am 5. Juli schlug der als gemäßigt geltende Kandidat Masoud Pezeshkian seinen Kontrahenten Said Jalili. An dieser 2. Wahlrunde nahmen laut staatlichen Angaben rund 59 Prozent der Wahlberechtigten teil. Einer von ihnen ist Universitätsdozent in Teheran. Er möchte in diesem Interview aus Sicherheitsgründen anonym bleiben.
Iran Journal: Sie haben die Präsidentschaftswahl im Iran zunächst boykottiert, dann aber bei der Stichwahl am 5. Juli doch Ihre Stimme abgegeben. Ist das nicht ein Widerspruch?
Antwort: Eigentlich schon. Aber wir haben hier keine andere Wahl, als mit solchen Widersprüchen zu leben beziehungsweise zu spielen. Wichtig war für mich zunächst, dem Obersten Führer zu zeigen, dass ich mit ihm und seiner Politik nicht einverstanden bin. Das haben über 75 Prozent der wahlberechtigten Menschen im Iran gedacht und getan. Das Regime verfälscht diese Zahlen, um sein Gesicht zu wahren, aber selbst, wenn sie mit ihren Angaben über die Wahlbeteiligung recht haben sollten, hat die Mehrheit der Bevölkerung die Bitte des Obersten Führer Ali Khamenei abgelehnt. Das war ein Referendum, und Khameneis Regime hat dadurch seine Legitimität verloren. Ich bin mir sicher, dass er die Botschaft verstanden hat.
Aber Sie haben dann im 2. Wahlgang doch jemanden gewählt, der betont hat, Khameneis rote Linien nicht überschreiten zu wollen.
Das ist richtig. Trotzdem gehört Pezeshkian nicht zum harten Kern der Islamisten um Khamenei. Erst hat die Mehrheit der Menschen mit dem Wahlboykott das gesamte System abgelehnt, und bei der Stichwahl haben wir dann gezeigt, dass wir auf jeden Fall dessen harten Kern ablehnen. Pezeshkian hat Einiges versprochen, was das Leben der Iraner:innen erleichtern soll, während Jalili und anderen Hardlinern das iranische Volk egal ist. Sie denken nur an die Interessen der islamischen Umma (der islamischen Gemeinschaft in der ganzen Welt – d. Red.).
Sie haben in unserem Gespräch vor diesem Interview gesagt, dass Sie ein laizistisches System nach dem Vorbild der westlichen Demokratien für ideal halten. Glauben Sie, dass Pezeshkian dazu beitragen kann, dass Sie diesem Ideal näher kommen?
Ich bin mir sicher, dass er und die Reformer etwas tun müssen, um sich von dem harten Kern der Islamisten deutlich abzugrenzen. Das wird zu Konflikten mit den Ultrakonservativen führen, die man iranische Taliban nennt. Je mehr sie sich innerhalb des Systems bekämpfen, desto größer wird die Aussicht, dass alle Flügel des Regimes schwächer werden. Außerdem habe ich schon längst die Hoffnung aufgegeben, selbst noch eine Demokratie im Iran zu erleben. Aber ich habe Kinder und Enkelkinder. Sie werden sie erleben, da bin ich mir sicher.
Denken Sie, dass die sogenannten Reformer wirklich an die Reformierbarkeit des Systems glauben?
Nicht alle. Aber diejenigen, die daran glauben, möchten das System nicht durch Reformen abschaffen, sondern kleine Schritte unternehmen: zum Beispiel mehr persönliche Freiheiten gewähren, die Moralpolizei abschaffen, die wirtschaftliche Macht des Staates bzw. der Revolutionsgarden begrenzen und für weniger Konfrontation mit dem Westen sorgen, um die ruinierte Wirtschaft ankurbeln zu können. Ein Teil von ihnen glaubt, Pezeshkian wäre dazu in der Lage. Ein kleiner Teil der Reformer will sogar die Verfassung überarbeiten, um die Alleinherrschaft von Khamenei einzuschränken. Das alles wären Reformen.
Kann Ihrer Meinung nach Pezeshkian oder sonst jemand Reformen durchsetzen?
Den bisherigen Erfahrungen nach zu urteilen: Nein. Pezeshkian sagt, er will es versuchen, aber er wird sehr wahrscheinlich wie der ehemalige Präsident Khatami* scheitern.

Wollte Khatami wirklich Reformen? Oder war er, wie manche behaupten, nur ein Handlanger des Staatsoberhaupts Khamenei?
Khatami wollte das System nicht abschaffen, das ist klar. Er wollte es reformieren, deshalb nenne ich ihn Reformer. Auch jetzt, vor ein paar Wochen, hat er gesagt, ein Umsturz sei weder möglich noch ratsam. Er wollte und will aber die Macht der Geheimdienste und der Revolutionsgarde einschränken, die Feindschaft mit dem Westen beilegen und den Iran zu einem islamischen Vorzeigestaat machen. Der Iran soll ein Modell werden für die Menschen in den Nachbarländern und sie motivieren, für die Schaffung eines ähnliches Systems aufzustehen.
Und Pezeshkian?
Er ist auch ein Verfechter des islamischen Systems, möchte aber, wie Khatami, einen Staat, in dem Gesetze herrschen, nicht die Willkür der Gardisten und Geheimdienste.
Aber islamische Gesetze.
Ja, er ist ein gläubiger Muslim und möchte, dass alle Menschen nach den Vorschriften des Islams leben. Meine Hoffnung ist, dass seine Vorstellung vom Islam mit der des harten Kerns des Systems kollidiert – dass sie einander schwächen. Das ist in den letzten 35 Jahren permanent geschehen. Selbst die Hardliner sind jetzt zersplittert und bekämpfen sich gegenseitig, allerdings nicht für die Interessen des Volkes, sondern um mehr Macht für sich selbst.
In den letzten Wochen wurden Videos veröffentlicht, die zeigen, dass Pezeshkian Sachen getan oder gesagt hat, die man eher von Hardlinern gewöhnt ist.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel, was die Kleidervorschriften für Frauen oder die Internetzensur angeht. Er ist stolz darauf, seine Mitarbeiterinnen zur Einhaltung der Hijabvorschriften gezwungen zu haben.
Wissen Sie, Politiker denken nicht wie Moralisten oder Humanisten. Es geht um Realpolitik und da haben sich viele verändert, wenn sie an die Macht gekommen sind oder sich die Situation gravierend geändert hat. Menschen sind keine Gegenstände, sie passen sich der Situation an. Es ist nicht klug, wenn man einem Politiker vorwirft, vor 30 oder 10 Jahren das und jenes gesagt oder getan zu haben. Vielleicht hat Pezeshkian sich in den letzten fünf Jahren geändert, vielleicht hat die revolutionäre Bewegung Frau, Leben, Freiheit ihn eines Besseren belehrt. Sind wir, Sie und ich, dieselben Personen wie vor 20 Jahren? Ist die Welt die von vor fünf Jahren? Wie hat sich die Welt allein seit der Coronapandemie geändert? Pezeshkian wird gezwungen sein, für das, was er versprochen hat, zu kämpfen. Er wird als Präsident anders handeln müssen als in seiner Zeit als Minister oder Universitätsdozent.
Er hat in mehreren kürzlich veröffentlichen Videos versprochen, sich für mehr Freiheiten im Inland und für einen friedlichen Kurs in der Außenpolitik einzusetzen. Man muss das nun von ihm verlangen, ihn dazu zwingen, seine Versprechen einzuhalten. Das wäre politisch klüger.
Er hat aber ein paar Tage nach seiner Wahl in einem Beitrag für eine arabische Zeitung für eine engere Zusammenarbeit der islamischen Länder gegen Israel geworben. Das hört sich nicht nach Frieden an.
Doch. Er hat für die politische und wirtschaftliche Kooperation der islamischen Länder geworben. Dadurch reduziert er die Angst der arabischen Staaten, für die das iranische Regime in den letzten 45 Jahren eine permanente Bedrohung gewesen ist. Er will in der Region beginnen. Der nächste Schritt wird sehr wahrscheinlich den USA und dem Westen insgesamt gelten. Denn die arabischen Länder in der Region sind enge Partner der USA. Die Feindschaft gegen Israel dient eher der Beruhigung der islamischen Hardliner im Iran und in der Region. Sie wird bei verbalen Attacken bleiben. Ich glaube, dagegen hätte die jetzige Regierung Israels auch nichts, denn sie braucht einen Feind wie das islamische Regime im Iran. Ich glaube, Pezeshkian will versuchen, die Feindschaft mit dem Westen zu beenden und die internationalen Sanktionen aufzuheben.
Ist er dazu befugt?
Fortsetzung auf Seite 2