Wahlen im Iran: „Wir leben hier mit solchen Widersprüchen“
Nein. Das letzte Wort hat Khamenei, und der will bis heute nichts an seinem System ändern. Aber Pezeshkian hat auch versprochen, zurückzutreten, wenn er sich nicht durchsetzen kann. Zumindest das können wir von ihm verlangen. Allein sein Scheitern wird für das Regime mit hohen Kosten verbunden sein. Es ist auch möglich, dass es zwischen ihm und Khamenei Abmachungen gibt, dass er in bestimmten Bereichen Lockerungen durchsetzen darf.
Glauben Sie, die historisch niedrige Wahlbeteiligung beim ersten Wahlgang hat Khamenei dazu bewogen, Lockerungen zuzulassen?
Das werden wir sehen. Allerdings gab es ähnlich niedrige Wahlbeteiligungen auch bei den vorangegangenen Wahlen. Nach offiziellen Angaben sollen etwa 49 Prozent der Wahlberechtigten bei den Präsidentschaftswahlen vor drei Jahren an die Wahlurnen gegangen sein und 41 Prozent bei den Parlamentswahlen im Frühling dieses Jahres. Wenn man die ungültigen Stimmen* bei diesen Wahlen abzieht, kommt man bei den Präsidentschaftswahlen auf etwa 35 und bei den Parlamentswahlen auf etwa 33 Prozent.
Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt das islamische System ab. Warum sind diese Menschen nicht vor zwei Jahren bei der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung auf die Straße gegangen?
Aus mindestens zwei Gründen: Das Regime geht mit aller Brutalität gegen die Protestierenden vor. Und, noch wichtiger: Es gibt keine Garantie, dass Proteste zur Verbesserung der Lage führen. Es gibt bisher keine Alternativen zu diesem System. Diejenigen, die Alternativen bilden könnten, sitzen entweder im Gefängnis oder stehen unter strenger Kontrolle der Geheimdienste. Und die Opposition im Ausland hat bisher auch keine ernstzunehmende Alternative anbieten können.

Könnte es nicht während eines landesweiten Aufstands zur Bildung einer Alternative kommen?
Ich bin skeptisch.
Warum?
Weil viele der Angehörigen der Machthaber und auch ehemalige Amtsträger sich als Kritiker Khameneis ausgeben. Dazu gehört auch Ex-Präsident Mahmoud Ahmadinejad. Er gehört zur schlimmsten Sorte der Islamisten, stellt sich sogar als einen schiitischen Heiligen dar. Aber er veröffentlicht Videos, in denen er die Freiheit des Hijabs für Frauen, Frieden in der Region und andere Themen propagiert, die die Mehrheit der Bevölkerung verlangt. Solche Politiker könnten schnell das Ruder an sich reißen, vor allem, weil sie die Unterstützung von einem Teil der Revolutionsgarde und der Geheimdienste haben.
Also keine rosigen Aussichten für den Iran!
Leider ja. Aber niemand weiß, was im nächsten Monat passiert. Wir haben viele Probleme, wirtschaftlicher und politischer Natur. Viele Iraner:innen sind verzweifelt, wissen nicht, was ihnen der nächste Tag bringt. Und wenn in ein paar Monaten in den USA Trump gewählt wird, dann wird es noch mehr Sanktionen geben. Das hieße mehr Armut und dementsprechend mehr Proteste. Es wird sehr wahrscheinlich größere landesweite Aufstände geben, und dann wird es zu mehr staatlicher Gewalt gegen die Protestierenden kommen. Und der Westen wird sich wieder mit verbalen Protesten begnügen.
Was sollte der Westen in so einem Fall tun?
Das ist zwar illusorisch, aber demokratische Regierungen könnten die Vertretungen des Regimes in ihren Ländern schließen und alle Lobbyisten des Regimes ausweisen. Gegen dieses Regime hilft nur Härte. Aber auch da bin ich skeptisch: Warum sollte sich der Westen für einen Regimewechsel im Iran einsetzen? Westliche Länder haben schlechte Erfahrungen mit der Unterstützung der Akteure von zwei Revolutionen gemacht: der russischen und der iranischen. Durch beide Revolutionen entstanden antiwestliche Diktaturen. Die oppositionellen Gruppen im Ausland sollten sich einigen und geschlossen für die bürgerlichen Rechte ihrer Landsleute eintreten. Sie müssen dem Westen zeigen, dass sie nach der Abschaffung der Islamischen Republik kein neues autoritäres System errichten wollen.
Sie sprechen nur vom Westen. Spielen China und Russland hinsichtlich der Entwicklungen im Iran keine Rolle?
Doch. Aber sie werden keine entscheidende Rolle spielen, sollte es zu einem großen Aufstand kommen. China ist vor allem an Absatzmärkten und billigen Rohstoffen interessiert. Die Chinesen mischen sich selten direkt in die Politik anderer Länder ein. Und die Russen haben nach dem Überfall auf die Ukraine auf internationaler Ebene sehr wenig zu sagen. Sollte der Westen eine Alternative für den Iran unterstützen, dann werden die Chinesen ein Auge zudrücken. Und ich bin sicher, sie werden zu den ersten gehören, die den neuen Machthabern gratulieren.♦
Interview: Farhad Payar
*Mohammad Khatami war von 1997 bis 2005 Präsident der Islamischen Republik Iran und hatte Reformen versprochen. Wegen dieser Versprechen erhielt er über 72 Prozent der Stimmen. Am Ende konnte er jedoch kaum Reformen durchsetzen und gestand, dass der Präsident im Iran nur „Logistiker“ des Staatsoberhaupts Ali Khamenei sei.
**Ungültige Stimmen sind Stimmzettel, die keine Kreuze haben. Ein Teil von ihnen sind mit Parolen gegen das Regime oder gegen die Verantwortlichen und die Kandidaten versehen.
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