Wahlen im Iran: „Wir wählen den Sturz des Regimes“

Frauen werden im Iran systematisch benachteiligt. Vor der anstehenden Präsidentschaftswahl am 18. Juni haben sie diverse Kampagnen zum Boykott des Urnengangs gestartet.

Von Nasrin Bassiri

Frauen spielen in der Machtstruktur des Irans keine Rolle. Sie dürfen nicht für Präsidentschaftswahlen kandidieren. Zivil- und strafrechtlich werden sie behandelt wie ein halber Mann. Ihren Mut und ihre Kraft schöpfen sie aus ihrer Unterdrückung, ihrer rechtlichen Benachteiligung und dem Schleierzwang.

Viele Frauen haben seit Anfang der achtziger Jahre ihre Söhne, Töchter und Ehemänner bei Krieg, Massenprotesten und Massenhinrichtungen verloren. Nun melden sie sich bei den Präsidentenwahlen zu Wort. Die sozialen Netzwerke sind überfüllt mit Beiträgen protestierender Frauen, die erklären, warum sie nicht wählen wollen, ja, sich sogar die Abschaffung der Islamischen Republik wünschen.

Manche erinnern an die Massenhinrichtungen im Spätsommer 1988, als etwa 5.000 junge Frauen und Männer – politische Aktivist*innen und Kritiker*innen des Regimes – innerhalb weniger Tage hingerichtet wurden. Sie wurden in einem Massengrab auf dem Friedhof Khavaran begraben. Ihre Mütter bildeten eine Gruppe, die „Khavaran-Mütter“, die für Gerechtigkeit kämpfen, sich in unterschiedlichen Abständen treffen und so die Erinnerung an die Getöteten wachhalten. Auch die Khavaran-Mütter rufen zum Wahlboykott auf.

Frauen, die sich entschieden haben, nicht zu den Urnen zu gehen, sehen in jeder Stimme für den Präsidenten des Regimes eine Stimme zur weiteren Unterdrückung der Frauen. Es gibt diverse Kampagnen mit Namen wie „Die Revolution ist weiblich“, „Nein zur Islamischen Republik“, „Meine Stimme lautet: Abschaffung der Islamischen Republik“ oder „Ich wähle den Sturz des Regimes“.

Bilder gegen das Vergessen

Fotos ihrer erschossenen und hingerichteten Söhne und Töchter in der Hand, einzeln oder gemeinsam, posieren trauernde Mütter vor der Kamera: „Wir werden weder vergessen, was unseren Kindern angetan wurde, noch werden wir den Verantwortlichen verzeihen. Sie gehören vor Gericht und müssen sich für ihre Taten verantworten“, erklären sie. Und: „Wir werden nicht wählen gehen, unsere Wahl ist der Sturz des Regimes.“

Die Aussagen der Mütter sind ähnlich, auch wenn ihre Geschichten und Gesichter, ihr Alter, ihr Ton und ihr Bildungsstand sich erheblich unterscheiden.

Die Mütter der hingerichteten politischen Gefangenen im Sommer 1988 besuchen regelmäßige die Massengräber ihrer Kinder im Khavaran-Friedhof
Die Mütter der hingerichteten politischen Gefangenen im Sommer 1988 besuchen regelmäßige die Massengräber ihrer Kinder im Khavaran-Friedhof

Nahid Shirpishe ist die Mutter von Pouya Bakhtiari. Der damals 27-Jährige starb bei den spontanen Protesten nach der Benzinpreiserhöhung im Iran am 16. November 2019 durch einen Kopfschuss. Bei den Protesten wurden laut der Nachrichtenagentur Reuters 1.500 Personen getötet.

Die Grundschullehrerin hat sich nach dem Tod ihres Sohnes vom Dienst suspendieren lassen. Jetzt erklärt sie in einem Youtube-Video: „Ich werde wegen meines Sohnes Pouya Bakhtiari nicht wählen gehen, der durch einen Kopfschuss seiner Träume beraubt wurde. Nur weil er zivilen Ungehorsam leistete und friedlich protestierte, haben sie ihn getötet. Würden Sie an meiner Stelle wählen?“ 

Khadijeh Ghavami ist die Mutter des schwerkranken Dissidenten Mohammad Nourizad. Der 69-jährige Regisseur, Drehbuchautor und Journalist ist in Mashhad inhaftiert, 1.000 Kilometer entfernt von Wohnort seiner Familie in Teheran. Die 87-Jährige klagt in einem Video das iranische Staatsoberhaupt Ali Khamenei wegen der Krankheit ihres Sohnes und dessen schrecklichen Haftbedingungen an. Nourizad stand bis 2009 Khamenei nahe und schrieb für die Ultra-Hardliner-Tageszeitung Keyhan. Das Jahr 2009 bedeutete für ihn wegen des Wahlbetrugs und der darauffolgenden, blutig niedergeschlagenen Massenproteste eine Wende. Nourizad schickte zahlreiche Schreiben an Ali Khamenei. Zuerst nannte er ihn darin in mildem Ton „Freund“ und „Vater“, später schrieb er offene Briefe voller Warnungen und Belehrungen. Als er seine Hoffnung auf Veränderungen ganz verlor, bezeichnete Nourizad Khamenei als einen der zwei Menschen, die für das Blutvergießen verantwortlich seien.

Die Mutter eines Gonabadi-Derwisches

‌Behnam Maghsoudi gehörte den verfolgten Gonabadi-Derwischen an und war bei deren Protesten im Februar und März 2018 verhaftet worden. Sechs Personen wurden dabei getötet, mehrere hundert Angehörige der verfolgten religiösen Gruppe wurden festgenommen, eine Person wurde später hingerichtet. Maghsoudi starb im Februar 2021 als Häftling in einem Krankenhaus. Medikamente werden im Gefängnis nur mit Genehmigung der Anstaltsärzte zur Verfügung gestellt. Seine Mutter wandte sich vor der Wahl in einem Video des Online-Magazins Kuche Anfang Juni mit folgenden Worten an den von Khamenei favorisierten Kandidaten Ebrahim Raissi: „Herr Raissi, ich habe Ihnen Behnam gesund und wohlauf ins Gefängnis gebracht, aber Sie haben mir seinen leblosen Körper zurückgegeben. Ich weiß nicht, was meinem Sohn im Gefängnis zugestoßen ist, und niemand bei Ihnen übernimmt die Verantwortung. Aber wenn Sie, Herr Raissi, nicht in der Lage sind, eine einzige Person, die in Ihre Obhut gegeben wurde, zu schützen, wieso erwarten Sie, das Ihnen die Verantwortung für das Wohl von 80 Millionen Menschen anvertraut wird?“ 

Protest in Teheran - November 2019
Allein bei den landesweiten Protesten im November 2019 wurden nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters 1.500 Menschen erschossen

Auch andere Opferangehörige erheben ihre Stimme

Am 8. Januar 2020 wurde ein ukrainisches Passagierflugzeug beim Abflug aus Teheran von Raketen der Revolutionsgarde abgeschossen. Alle 176 Insassen fanden dabei den Tod. Drei Tage lang hatten die Verantwortlichen die Verwicklung der Revolutionsgarde geleugnet, bis sie den Abschuss zugeben mussten. Die Angehörigen der Opfer schlossen sich in einem Verein zusammen. 

Leyla Latifi, Mitglied des Vereins und Mutter von Amir-Hossein Saidinia, der bei dem Abschuss sein Leben verlor, sagt in einer Video-Botschaft: „Wir Opferangehörigen erklären, dass wir unsere Stimme an ‚Sturz des Regimes‘ geben.“ Man wolle zudem „die Bevölkerung dazu aufrufen, sich der Kampagne „Meine Stimme für den Sturz des Regimes“ anzuschließen, so Latifi weiter: „Euch steht ein gutes und gerechteres Leben zu. Dieses Recht wurde Euch in den vergangenen 42 Jahren verwehrt. Wir haben ein sehr reiches Land und wollen gegen diejenigen, die für Gräueltaten und Verbrechen verantwortlich sind, einen fairen Prozess führen. Wir hoffen, dass der Tag kommen wird, an dem wir unser Rechte erlangen und erleben, dass die Verantwortlichen bestraft werden.“♦

© Iran Journal

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