„Republik“ der Angst
Beginnen wir mit jenen Frauen, um die sich in diesen Tagen alles dreht, jene, die nach Ansicht Khameneis „sowohl politisch wie religiös Frevel“ begehen, was sofort unterbunden werden müsse.
Als ob eine umfassende Feindesinvasion bevorstünde, wappnet sich seit Wochen der gesamte Staat gegen Verstöße gegen den Hijab. Gezimmert wurde schließlich ein Gesetzeswerk von 79 Paragraphen mit martialischen Strafen für jene Frauen, die wagemutig ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit erscheinen. Denn ein Viertel der Frauen hält sich nach Untersuchungen des Parlaments nicht an den Hijab, in einigen Stadtteilen der Großstädte sei dieser Prozentsatz noch viel höher.
Obligatorische Vollstrecker dieses Gesetzes sind nicht nur offizielle Institutionen des Staates, nicht allein die Exekutive, der Justizapparat und die Kultureinrichtungen. Auch Inhaber und Verwalter von Arztpraxen, Krankenhäusern, Kinos, Geschäftspassagen und Restaurants sind Vollstrecker des Hijab-Gesetzes. Mit einem Wort: Jeder gegen jede.
Die juristisch verworrene Paragraphensammlung haben zehn Männer in einem besonderen Ausschuss hinter verschlossenen Türen verabschiedet. Ein Gesetz zur Spaltung der Bevölkerung, eine Anleitung zum Bürgerkrieg, urteilt die renommierte Juristin Mehrangiz Kar über das Hijab-Machwerk.
Vielen Ultraradikalen ist das Gesetz trotzdem nicht radikal genug. Hossein Schariatmadari, der einflussreiche Chefredakteur der Tageszeitung Keyhan, fordert Sondervollmachten für die Basijis, die paramilitärischen Verbände. Ali Khamenei, der mächtigste Mann des Landes, bestimmt persönlich über diesen Redaktionsposten.
Ayatollah Ali Moalemi forderte die Auspeitschung kopftuchloser Frauen an Ort und Stelle. Der 70-jährige Ayatollah ist Mitglied des so genannten Expertenrats, der den Revolutionsführer wählt.
Geschlossene Unis
Eine weitere Quelle von Khameneis Angst sind die Universitäten. Deshalb bleiben sie an Jinas (Mahsas) Todestag geschlossen. Alle Vorlesungen werden im kommenden Semester virtuell sein. Noch befinden sich die Student*innen in den Sommerferien, der just an ihrem erstem Todestag zu Ende geht. Bis zu diesem Tag sind in den letzten Wochen 78 Universitätsprofessoren entlassen worden, hauptsächlich Hochschullehrer der Geisteswissenschaften. Zugleich rollt eine Welle der Verhaftungen. Denn Jinas nahender erster Todestag macht die Herrschaft völlig nervös.
Iranische Frau kämpft für Recht auf Selbstbestimmung. Der Mann sagt, sie dürfe nicht in Öffentlichkeit erscheinen, wie sie will. Sie: Ich ziehe mich an, wie es mir gefällt, das geht niemanden an … Ihr raubt die Bevölkerung aus, ihr solltet euch schämen. #Iran #FrauenRevolution pic.twitter.com/YPB6TUvj5y
— Iran-Journal (@iran_journal) August 24, 2023
Überwachungskameras auf Friedhöfen
Auch die Familien und Freunde der bei den Protesten getöteten Demonstrant*innen, es sind offiziell mehrere Hundert, sorgen für Angst, weil sie an diesem Jahrestag aktiv werden wollten. Doch ein Teil von ihnen sitzt inzwischen in den Gefängnissen.
Sogar die Gräber vieler der über 500 Opfer der Unruhen werden mit Kameras kontrolliert, weil die Sicherheitskräfte am Mahsas Todestag Demonstrationen auf Friedhöfen fürchten.
Eine alte Audiodatei
Je näher der erste Todestag Jinas rückt, um so größer scheint die Nervosität zu werden. Am vergangenen Samstag kam eine zwei Jahre alte Audiodatei von Mohammad Ali (Aziz) Jafari, dem Ex Kommandanten der Revolutionsgarden, wieder im Umlauf. „Seid im Kampf gegen alle, die die Republik herausfordern feuerfrei“, ermutigte damals der General die Basidj-Milizen.
Den Ausdruck “feuerfrei“ erwähnte zum ersten Mal Ali Khamenei 2017 bei einer Audienz für eine Gruppen der regimetreuen Studenten. „Feuerfrei“ komme nicht nur im klassischen Krieg vor, wo jeder Kämpfer nach eigenem Ermessen handeln müsse. Im Kampf für die Durchsetzung der islamischen Gebote könne und dürfe die Regierung nicht immer alles tun, was gegen die Unruhestifter getan werden soll, hier beginne die Stunde „der Feuerfreien“, sagte Khamenei.
Aufruf zum Kampf
Gleichzeitig zu diesen martialischen Tönen schreibt Narges Mohammadi, Ikone der iranischen Frauenbewegung, aus ihrer Zelle im Evin-Gefängnis einen dramatischen und programmatischen Brief zu Jinas Todestag. Das letzte gültige Urteil gegen sie lautet nach Angaben ihres exilierten Ehemanns acht Jahre Gefängnis und 70 Peitschenhiebe. Die Schlacht mögen sie gewonnen haben, den Krieg hätten sie aber längst verloren: Die entfachte Bewegung Frau,Leben, Freiheit verheiße den Anfang vom Ende des Regimes, schreibt Mohammadi: „Endet die Herrschaft über den Frauenkörper, endet diese Herrschaft insgesamt.“
Vor fünf Tagen trafen sich ehemalige politische Gefangenen mit Mohammad Chatami, dem Ex-Reformpräsidenten. Das System befinde sich auf dem Weg der Selbstzerstörung, es sei denn, es kehre um, antwortete Chatami auf die Frage eines Anwesenden, wo sich die politische Ordnung momentan befinde.
Angst bestimmt also das Handeln – das der Gegner ebenso wie das der Herrscher dieser „Republik“. Trotz all dem kann es durchaus sein, dass an diesem 16. September nichts passiert und alles ruhig bleibt. Das wird aber eine vorübergehende, eine taktische Ruhe sein.♦
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