Eine Lehrstunde bei Gottlosen und Gelehrten
Armins letzter berühmter Gesprächspartner war ein landesweit beachteter Gelehrter aus der iranischen Stadt Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit. Der 61-jährige Mehdi Nassiri hat den Rang eines Mojtaheds – eines „Besitzers der Urteilskraft“ – trägt aber keinen Turban mehr. Die Gründe seiner Selbstentkleidung füllen Seiten von theologischen, philosophischen und politischen Schriften. Nassiris Biografie könnte man auch als eine Geschichte von Khameneis Aufstieg, Gipfelbesteigung und beginnenden Abstiegs lesen.
Als die islamische Revolution im Iran 1979 siegte, war Nassiri gerade 15 Jahr alt, aber bereits ein erfolgreicher Seminarist. In Qom, wo Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini seine Revolution startete und wo das Herz des schiitischen Klerus schlägt, wird er zu einem anerkannten Lehrmeister der schiitischen Seminare. Nebenbei schreibt er auch Beiträge für die großen Zeitungen des Landes. Wir sind in den turbulenten Anfangsjahren einer Revolution, die die Welt verändern wollte.
Sehr schnell wird Khomeinis Nachfolger als mächtigster Mann des Landes, Ali Khamenei, auf diesen Gelehrten mit besonderer Schreibkunst aufmerksam, er macht Nassiri zum Chefredakteur der einflussreichen Teheraner Tageszeitung Keyhan, Khameneis Lieblingspostille.
In den sieben Jahren, in denen Nassiri diese politisch sehr wichtige Tageszeitung leitet, gehört er zu den ständigen Gästen in Khameneis Haus, dem eigentlichen Zentrum der Teheraner Macht. Nach und nach verschaffen sich andere Revolutionäre Zugang zur Redaktion, zunehmend wird die Atmosphäre dort unerträglich, er verlässt schließlich Keyhan, versucht sich zwei Jahre lang mit einem eigenem Magazin und kehrt schließlich zu seinem Seminar nach Qom zurück. Später beruft ihn Khamenei in ein Komitee, das die Freitagsprediger samt ihren wöchentlichen Predigten bestimmt. Das ist eine Schlüsselposition im gesamten Machtgebäude des Iran: Denn die Freitagsprediger müssen allwöchentlich Khameneis Politik dem Volk näherbringen. Sie sind in ihren Städten die eigentlichen Machthaber.

Zwei Jahre später wird Nassiri Khameneis persönlicher Vertreter in den Vereinigten Arabischen Emirate. Vier Jahre lang bleibt er auf diesem Posten. Die Emirate sind Irans wichtigste Handelspartner, Dubai ist das Haupttor zum Weltmarkt. Seit ihrem Bestehen steht die Islamische Republik unter diversen internationalen Sanktionen. In diesen vier Dekaden entwickeln sich die Emirate zu einer wichtigen Drehscheibe für dunkle Geschäfte Irans mit dem Rest der Welt. Hier finden die Teheraner Machthaber alles, was sie brauchen: internationale Banken, genug Winkeladvokaten und einen großen Hafen in Sichtweite, nur einige Kilometer von der iranischen Küste entfernt.
Vom Saulus zum Paulus
Beginnt hier, in diesem aufstrebenden Golfstaat, auch Nassiris Absetzbewegung von seinem Förderer Khamenei, der Islamischen Republik und dem politischen Islam überhaupt? Er hatte immer eine sensible Antenne für Korruption, dazu habe er vertrauliche Briefe an Khamenei geschrieben und ihn ermahnt, dass sich Käuflichkeit und staatlicher Zerfall gegenseitig bedingten. Vergebens: Die Islamische Republik befinde sich heute deshalb in einem rapiden Zerfallsprozess, weil sie strukturell und hoffnungslos korrupt sei, sagt Nassiri in seinem Live-Auftritt im Kanal der Gottlosen.
Nassiri ist ein genauer Beobachter. In dem Gespräch redet er darüber, wie Glaubensgrundsätze bei der Mehrheit der Bevölkerung längst und gänzlich ins Wanken geraten seien, zählt erstaunliche Korruptionsbeispiele in den schiitischen Seminaren auf, berichtet über doppelgesichtige Ayatollahs und beschreibt die Akribie des Geheimdienstes bei der Kontrolle der Lehrstuben der Mullahs.
Der Theologe ist längst zu einem prominenten, gut informierten und zugleich radikalen Gegner der Islamischen Republik mutiert; er ist ein geachteter Gelehrter über viele Oppositionsgrenzen hinweg.
Noch kann er reden
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