Eine Lehrstunde bei Gottlosen und Gelehrten
Die Medien der Machthaber verschwiegen seine Existenz lange, obwohl er täglich viele „rote Linien“ überschreitet. Auch die noch geduldeten Restreformer schweigen. Ein halbwegs ernster Disput mit ihm ist gefährlich, noch ist er nicht verhaftet, aber die Drohungen nehmen zu.
Trotzdem nimmt sich Nassiri regelmäßig Khamenei persönlich vor. Sein Liveauftritt im YouTube-Kanal der „Gottlosen“ ist ein Ereignis, ein Medienerfolg für Armin, den „Republikgründer“. Zehntausende hören dem Gespräch live zu, einige stellen interessante Fragen, Nassiri antwortet redegewandt, ruhig und reuevoll.
Wie schmerzvoll er die Reue empfindet, was er für die Festigung des „korrupten Systems“ geleistet hat, beschreibt er tags darauf selbst in seinem Blog: „Wenn ich könnte, würde ich mir eine scharfe Schere beschaffen und alle Teile meines Körpers Stück für Stück herausschneiden, die verantwortlich sind für meine Radikalität, Verbohrtheit und die verbale Gewalt meiner jungen Jahre.“ Als Ali Khamenei ihn zum Chefradakteur von Keyhan machte, war Nassiri gerade 25 Jahre alt. Heute ist er längst jenseits der Linie, die Radikalität tolerierbar macht.
Die Islamische Republik sei weder fähig noch willens zu Reformen, sagt und belegt der Reuige täglich in seinem Telegram-Kanal. Als Khamenei am vergangenen Dienstag in seiner Predigt zum Fest am Ende des Ramadan sagte, Israel werde bestraft werden, zeigt das Staatsfernsehen den bedeutungsvoll lächelnden Kommandanten der Raketeneinheit, Ismail Hajizadeh.
Als 2018 Donald Trump Qasem Soleimani, Khameneis wichtigsten Kommandanten, ermorden ließ, leitete dieser Hajizadeh das Rachekommando. Der Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine mit 176 Passagieren war das Einzige und Schrecklichste, was die Welt von dieser Rache an Amerika hörte.
Nur wenige Stunden nach Khameneis Strafandrohung gegen Israel kommt Nassiris Kommentar auf dessen Telegram-Kanal. Er lautet: „Alles dient der Macht.“ Im Haus Khamenei unter den mächtigen Kommandanten spreche man von „strategischer Geduld“. Gleichzeitig, praktisch im Nebenzimmer, „planen Paladine die nächste Demonstration gegen Israel auf dem Teheraner Palästina-Platz“.
Nassiri kann treffend und bildhaft beschreiben:
„Das Dilemma des ‚Rechtsgelehrten‘ ist, wie er ein symbolisch attraktives, aber weiches israelisches Ziel findet, ohne dass ein Scheinangriff darauf Überreaktionen auslöst.“
„Ein herrschender Rechtsgelehrter würde sogar den verborgenen zwölften Imam, in dessen Namen er regiert, töten, um seine Ordnung zu retten.“
Und er wagt auch eine schreckliche Prognose: In drei bis vier Jahren beginne im Iran der irreversible Zerfall, es entstehe eine Art Großsomalia. Doch es müsse nicht unbedingt so kommen. Iran besitze kluge Köpfe. Alle müssten aufwachen, „von Tajzadeh bis Shahzadeh“.
Dieses Spiel mit den sich reimenden Namen steht für das äußerste Widerstandsspektrum gegen die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“. Tajzadeh war ein wichtiger Funktionär, zuletzt Vize-Innenminister, sitzt heute im Evin-Gefängnis und ist Sprachrohr jener Reformer, die Khamenei überwinden wollen. Beim zweiten handelt es sich um den Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi.♦
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