Lektion aus Putins Hinterhof

Ein kurzes Interview mit dem iranischen Botschafter in Moskau, das vor der Veröffentlichung der Nachricht von Raisis Tod geführt wurde, offenbart das Machtverhältnis zwischen Moskau und Teheran.

Von Ali Sadrzadeh

Das Interview dauert 6 Minuten und 23 Sekunden. Es ist ein Spiegelbild. Darin sieht man gestern, heute und wahrscheinlich auch morgen. Und es zeigt auch die Quelle von Khameneis Selbstbewusstsein.

Es ist Sonntagnachmittag, der 19. Mai. Die iranischen Medien sind voll von widersprüchlichen Meldungen über das Verschwinden des Präsidentenhubschraubers. Niemand weiß, was wirklich geschehen ist. Raisis Tod wird erst am nächsten Morgen offiziell bestätigt werden.

In der Leitung ist Kazem Jalali, Irans Botschafter in Moskau. Er spricht über seinen Besuch bei Wladimir Putin im Kreml. Der Moderator des staatlichen Fernsehens stellt keine Fragen, er ist nur der Bühnengeber. Doch Putin weiß zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits sehr genau, was geschehen ist. Jalali erzählt: „Ich saß im Auto, da ruft Putins Sonderberater Igor Lewitin an und fordert mich auf, in den Kreml zu kommen.“ Der offizielle Titel des 72-jährigen Lewitin lautet „wirklicher Staatsrat 1. Klasse der russischen Föderation“.

Und Lewitin gehört innerhalb der Moskauer Nomenklatura tatsächlich zu den „Erstklassigen“. Er ist Absolvent der Leningrader Militärschule, durchlief eine militärische Laufbahn, diente in der Ukraine, in Ungarn und auf dem Balkan, sein Fachgebiet ist Logistik und Transport. Bevor Putin ihn zu seinem Sonderberater machte, war Lewitin Verkehrs- und Kommunikationsminister und leitete die russische Fluggesellschaft Aeroflot.

Als er an diesem Sonntagnachmittag den iranischen Botschafter in den Kreml zu Putin zitiert, spricht noch niemand von Raisis Tod. Kurz nachdem Jalali in Putins Büro ankommt, berichtet als erster ein israelischer TV-Sender vom Hubschrauberabsturz des iranischen Präsidenten und seinem möglichen Tod. Doch auch diese Meldung ist eine von vielen widersprüchlichen Nachrichten, die man zu dieser Stunde hört und liest und vergisst. Es ist etwa 17 Uhr Teheraner Zeit.

Wer beim Gespräch dabei war

Der Botschafter zählt auf, wer außer ihm noch zu Putin in den Kreml bestellt wurde: Andrei Belousow, der neue russische Verteidigungsminister, sein Vorgänger Sergei Shoigu, der jetzt Generalsekretär des Sicherheitsrats ist, General Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, General Alexander Kurenkov, der Minister für Notstandssituationen, sowie ein hochrangiger Geheimdienstchef, dessen Namen der Botschafter nicht preisgibt.

Russlands Präsident Wladimir Putin besuchte 2015 Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei und schenkte ihm einen alten Koran
Russlands Präsident Wladimir Putin besuchte 2015 Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei und schenkte ihm einen alten Koran

An diesem Nachmittag ist in Putins Hinterhof offenbar eine Notstandssituation eingetreten. Deshalb hat er diese außerordentliche und sonderbare Gesellschaft um sich versammelt. Was genau in der Sitzung besprochen wird, welche Empfehlungen oder Befehle Putin den Anwesenden erteilt, wissen wir nicht. Im Interview spricht der Botschafter viel von Solidarität und anderen diplomatischen Floskeln, die er von den Anwesenden gehört habe.

Doch diese Runde ist nicht für leeres Gerede zusammengekommen. Genaueres erfahren wir natürlich nicht, doch ein Satz von Putin ist bemerkenswert: Der Iran werde diese schwierige Situation überwinden, zitiert der Botschafter den Kremlchef. Übersetzt bedeutet das: Nichts werde im Iran geschehen, dank der geballten militärischen Macht Moskaus, deren Vertreter in dieser Sitzung anwesend sind.

Fast zu gleicher Zeit tritt Ali Khamenei in Teheran auf und sagt mehr oder weniger den gleichen Satz: Was auch dem geliebten Präsidenten zugestoßen sei, es werde nichts geschehen, alles bleibe bei Alten.

Das Interview mit dem Botschafter offenbart Putins Blick auf den Iran von heute und auf das, was morgen in diesem Land geschehen mag. Und es zeigt auch, wen die Moskauer Führung für ihre Besitzstandswahrung alles zusammenruft. Über die Irrungen und Wirrungen der islamischen Revolution vor 45 Jahren mag man Seiten mit unterschiedlichen Meinungen füllen, eins ist aber unbestritten: Diese Revolution, die auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs stattfand, beantwortete ein für alle Mal die Jahrhundertfrage, zu welchem Block der Iran gehört.

Während zur gleichen Zeit die Sowjetunion die Rote Armee im Nachbarland Afghanistan einsetzen musste, um dort mit viel Blutvergießen ihre bedrohte Macht zu sichern, katapultierte die islamische Revolution den Iran unwiederbringlich in den russischen Einflussbereich. Und wenn man die entscheidenden Ereignisse der letzten 45 Jahre im Iran Revue passieren lässt, sieht man überall Moskaus vehementen Einsatz für seine Besitzstandswahrung.

Seit 36 Jahren bestimmt Ali Khamenei nicht nur die Geschicke Irans, er ist auch Bewahrer der Moskauer Interessen in seinem Reich. Seine tödlichen Drohnen, die täglich über der Ukraine niedergehen, sind Zeugen seiner Ergebenheit gegenüber dem Moskauer Machthaber.

Es gibt im Internet ein Audiofile des ehemaligen iranischen Außenministers Jawad Zarif, in dem er frank und frei sagt, dass der Iran sei seit 34 Jahren eine Kolonie Russlands sei. Eine grundsätzliche Veränderung in Teheran ist ohne eine ebenfalls grundsätzliche Veränderung in Moskau nicht denkbar. Dies ist eine weitere Lektion des kurzen Interviews.♦

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