Brief an die EU: Zeigen Sie wenigstens diesmal Courage!

Am 6. April führen die Vertreter der EU, China und Russland Gespräche mit den Gesandten der Islamischen Republik Iran. Aus diesem Anlass legt das Iran Journal erneut den offenen Brief des iranisches Dichters und Übersetzers Maziyar Roozbeh* an die EU auf, der bereits im Dezember 2020 veröffentlicht wurde. 

Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Rates,

sollten Sie dazu kommen, diesen Brief zu lesen, bedenken Sie bitte eins: Bis Sie ihn zu Ende gelesen haben, ist die Welt für die meisten Iraner*innen ein Stück dunkler und depressiver geworden. Sehr wahrscheinlich schämen sich just in diesem Moment viele iranische Väter und Mütter vor ihren Kindern, weil sie wieder mit einer halbleeren Einkaufstüte die Wohnung betreten, in der elementare Lebensmittel wie Fleisch, Reis und Obst fehlen – und das in einem Land mit immensen Bodenschätzen und einer vorteilhaften geografischen Lage.

Die alleinige Schuld an dieser Situation tragen weder Sie noch die iranische Bevölkerung. Dieser Umstand ist vor allem den ideologischen Agitationen des islamischen Regimes innerhalb und außerhalb des Iran zu verdanken.

Verehrte Regierungs- und Staatschefs fortschrittlicher und demokratischer Länder,

sollten Sie sich fragen, warum ich gerade Ihnen diesen Brief schreibe, finden Sie in den folgenden Sätzen die Antwort. Ich und meine Freund*innen und Kolleg*innen gehen davon aus, dass sich die Vertreter*innen Ihrer Länder bald wieder die Türklinke in die Hand geben werden, um mit dem islamischen Regime im Iran Wirtschaftsverträge abzuschließen. Nach dem Atomabkommen im Jahr 2015 sahen wir sprachlos zu, wie Delegationen aus hohen Politiker*innen und Wirtschaftsmanager*innen Ihrer Länder einen Wettbewerb um die Gunst des islamischen Regimes veranstalteten. Es war uns ein Rätsel, warum das reiche Europa einem mittelalterlichen Regime, das die europäischen Werte und Lebensweise hasst, derart auf den Leim geht: ein Regime, das seit Jahrzehnten von Menschenrechtsorganisationen und ehrenhaften Politiker*innen Ihrer Länder wegen massiver Menschenrechtsverletzungen und Unterstützung von bewaffneten Gruppierungen in der Region verurteilt wird.

Damit haben Sie sich bewusst oder unbewusst am Reichtum eines Landes bereichern wollen, in dem die breite Masse in den letzten zwei Jahrzehnten immer ärmer wurde, dessen Arbeiter*innen nach Angaben der staatlichen Arbeiterorganisation Khaneh Kargar bis zu 80 Prozent unter der Armutsgrenze leben und dessen Lehrkräfte abends als Taxifahrer*innen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – während die Machthaber in Saus und Braus leben, den Wohnsitz ihrer Kinder in Ihre Länder verlegen und deren Frauen zwecks Entbindung und Shoppen nach Paris, London und Berlin kommen. Ein Land, in dem politische und soziale Aktivist*innen in den Kerkern eingesperrt und gefoltert werden und die Hälfte der Bevölkerung, die Frauen, nicht einmal ihre Kleider selbst aussuchen darf. Ein Land, in dem es trotz all diesen Problemen seit der Gründung der Islamischen Republik vor mehr als 40 Jahren Widerstand gibt, seitens der Frauen, Arbeiter*innen und Lehrer*innen.

Sehr geehrte Vertreter*innen der zivilisierten Völker Europas,

Ihre Geschäfte mit Irans Regierung haben bisher zu keinem anderen Ergebnis geführt, als das Leben dieses korrupten und mafiösen Systems zu verlängern und dessen bewaffnete Organe bei der Unterdrückung ihrer Widersacher im In- und zum Teil auch im Ausland noch dreister zu machen.

Wer unter Ihnen noch der Meinung ist, dass innerhalb der Machtzirkel der Islamischen Republik ein Flügel existiert, der sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzt, der irrt. Ali Khamenei und die Revolutionsgarden haben gezeigt, dass jeder Präsident, ob aus dem Lager der reformistischen oder reaktionären Islamisten, ein Präsident des religiösen Oberhaupts und nicht des Volkes ist.

Die Menschen im Iran haben mittlerweile ihre Hoffnung auf Verbesserung durch Wahlen aufgegeben. Die meisten warten eine Gelegenheit ab, um auf die Straßen zu gehen und ihre Forderungen den Machthabern und selbstverständlich auch Ihnen mitzuteilen.

Auf der anderen Seite organisieren sich religiöse Zentren und paramilitärische Schlägertrupps noch strammer, um jede kritische Stimme im Keim zu ersticken. Seit Februar 2017 stellt Khamenei seine Tötungsmaschinerie noch offener zur Schau und hat keine Hemmungen, Hunderte Menschen töten und Tausende verhaften zu lassen.

Meine Damen und Herren,

wir Iraner*innen, zumindest die junge Generation, erkennen Ihr Europa und Ihre Werte als Maßstäbe für Demokratie und Menschenrechte an. Dass Sie im Umgang mit der Islamischen Republik andere Maßstäbe setzen, ist uns unbegreiflich. Ihnen oder zumindest Ihren Berater*innen kann doch nicht verborgen geblieben sein, dass wir Iraner*innen im Bereich Politik, Soziales und Kunst trotz aller Hürden zu den fortschrittlichsten Ländern unserer Region zählen, dass wir eine enorm hohe Anzahl an Akademiker*innen haben, dass unsere Frauen und unsere Jugend für ihre vom islamischen Regime beschnittenen Rechte unermüdlich kämpfen.

Dieses brutale Regime, sprich Khamenei und seine Gefährten, wird sich von seinen antiwestlichen, demokratie- und frauenfeindlichen Politik nicht abwenden. Jetzt hoffen sie durch einen demokratischen Präsidenten in den USA auf eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage, um für den Export ihrer islamischen Revolution Anlauf zu nehmen.

Manchen von Ihnen werden sehr wahrscheinlich ihrer gewohnten Art treu bleiben und Irans Machthaber wieder den Hof machen. Zeigen Sie bitte wenigstens dieses Mal Courage und treffen Sie sich neben den Unterdrückern auch mit Vertreter*innen verschiedener gesellschaftlicher Schichten, um Ihre Sympathie für Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren. Die Namen mancher von ihnen sollten Ihnen bekannt sein, denn sie haben ja mehrere europäische Menschenrechtspreise erhalten. Achten Sie bitte auch die Würde der Iraner*innen und setzten Sie Ihren Henker-Geschäftspartnern Bedingungen wie die Einhaltung der UN-Charta für Menschenrechte.

Nur so können Sie das Vertrauen, das Sie bei der Mehrheit der Iraner*innen seit spätestens 2015 verloren haben, zurückgewinnen und dazu noch dem islamischen Regime zeigen, dass für Sie Menschenrechte und Achtung der Menschenwürde globale Werte sind.

Mit freundlichen Grüßen

Maziyar Roozbeh

*Um sich gegen staatliche Repressalien zu schützen, schreibt der Autor unter diesem Namen.