Ein Sieg für die Zivilgesellschaft

Aufrufe von zwei einflussreichen Geistlichen im Iran zur Gewalt gegen Frauen, die die islamische Kleiderordnung nicht einhalten, lösten in den Sozialen Netzwerken Empörung und Protest aus. Daraufhin widerriefen die Geistlichen ihre Forderungen. Darin sieht unser Gastautor Maziyar Roozbeh* einen Sieg der Zivilgesellschaft in der Islamischen Republik.

„Die Polizei muss Frauen, die sich nicht an die islamische Kleiderordnung halten, das Leben unsicher machen, weil sie unsere religiöse Gesellschaft unsicher machen wollen.“ Das verlangten Anfang Oktober die Imame und Freitagsprediger der iranischen Städte Isfahan und Bojnurd, Yousef Tabatabaienejad und Abolghassel Yaghoubi. Letzterer ging sogar noch einen Schritt weiter und verglich die in seinen Augen zu missachtenden Frauen mit Krankheitserregern: „Wir müssen aufpassen, dass uns das Coronavirus nicht von anderen Viren ablenkt“, warnte Yaghoubi.

Freiheitsprediger sind direkte Vertreter des religiösen Oberhaupts des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, sie sind mancherorts mächtiger als Gouverneure. Deshalb werden die Äußerungen der beiden Geistlichen in den sozialen Netzwerken als „grünes Licht“ für blutige Attentate von Anhänger*innen Khameneis scharf kritisiert – so scharf, beide Prediger ihre Aussagen revidierten: Medien hätten diese „wieder einmal“  falsch interpretiert.

Schlimme Erinnerungen wachgerufen

Der Rückzug der Imame zeugt zwar von der zunehmenden Macht der iranischen Zivilgesellschaft. Dennoch haben ihre Aufrufe bei vielen Iraner*innen bittere Erinnerungen wachgerufen, insbesondere in Isfahan.

2014 fielen dort nach Äußerungen bekannter Geistlicher gegen Frauen, die sich nicht „islamische genug“ anzögen oder verhielten, vier junge Frauen Säureattacken zum Opfer. Beobachter*innen schrieben diese Taten radikalen Anhängern der Geistlichen zu. Der damalige Freitagsimam von Isfahan, Mohammad Taghi Rahbar, verteidigte die Angriffe im Namen der Religion: Die religiöse Pflicht „Amr be maaruf, nahi az monker“ („Das Rechte gebieten, das Verwerfliche verbieten“) habe nicht nur verbal zu erfolgen, sondern dürfe auch mit anderen Maßnahmen durchgesetzt werden, erklärte Rahbar damals.

Eine der Opfer von Säureattacken in Isfahan - vorher, nachher!
Eine der Opfer von Säureattacken in Isfahan – vorher, nachher!

Obwohl die Säureattacken von Isfahan sowohl im Iran als auch im Ausland auf Protest und Entsetzen stießen, wurden bis heute weder die Täter noch mögliche Hintermänner der schrecklichen Taten gefasst. Immerhin führten die damaligen Proteste dazu, dass der ultrakonservative Freitagsimam von Teheran, Ahmad Khatami, die Säureattacken kritisierte: Sie hätten dem Image des islamischen Systems geschadet.

Eine alte Angriffsmethode

Säureattacken sind im Iran aber keine neue Methode zur Bestrafung widerspenstiger Frauen. Bereits vor der islamischen Revolution von 1979, unter der Herrschaft von Schah Mohammad Reza Pahlavi, gab es solche Attacken: Vermummte Männer verätzten die Gesichter unverschleierter Frauen. Von einem Teil der linken Kräfte wurden diese Säureangriffe damals jedoch nicht den Religiösen, sondern dem Schah-Regime zugeschrieben: Zehn Monate vor der Revolution, im April 1978, veröffentlichte die der kommunistischen Tudeh-Partei nahestehende Zeitschrift Nawid einen Artikel, der die religiösen Kräfte in Schutz nahm und den damaligen Geheimdienst SAVAK für Säureangriffe auf Frauen in Teheran verantwortlich machte. Darin hieß es: „Der SAVAK löste durch seine Handlanger in der Öffentlichkeit Panik aus, indem er Frauen vor mehreren Mädchenschulen und an anderen Orten in der Stadt angriff, erstach, mit Säure übergoss, bedrohte und belästigte. Dann versuchte SAVAK, diese Taten religiösen Kämpfern in die Schuhe zu schieben.“ Der Geheimdienst des Schahs wurde weiter beschuldigt, Frauen an gesellschaftlicher Entwicklung zu hindern und Fanatismus fördern zu wollen.

Beweise für diese Behauptungen hat die Tudeh-Partei bis heute nicht vorgelegt. Sie hielt damals zu den „anti-imperialistischen“ Islamisten und bekämpfte bis zum Ende ihrer legalen Aktivität gemeinsam mit dem islamischen Regime Bestrebungen für eine Demokratie westlicher Prägung. Nachdem die demokratische und liberale Opposition vollständig beseitigt worden war, fiel die Tudeh-Partei selbst der ehrgeizigen Politik von Khomeini und seiner Anhängerschaft zum Opfer. Die Partei wurde verboten, ihre Führer und aktiven Mitglieder wurden verhaftet und zum Teil hingerichtet.

Fortsetzung auf Seite 2